Wie die Gedichte gelesen werden wollen
Ein Versuch zur Poetik
von
Bernd Pol

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1

Dichten, Welt verdichten, fassbar machen
Gestalten

herausheben – verschwinden lassen – neu erfassen
Bedeutendes nach vorne holen – Gewohntes ungesehen machen
Zusammenhänge aufspüren

Kopfarbeit
Baucharbeit

2

Ein Gedicht ist ein Spiel um die Welt.
Ein Gedicht ist ein Spiel um die Welt zur eigenen Lust.
Ein Gedicht ist ein Spiel um die Welt zur eigenen Lust dessen, der liest.

... dessen, der schreibt ...

Ein Gedicht ist ein Spiel um die Welt um den Verlust dessen, der schreibt.
Ein Gedicht ist ein Spiel um die Welt um den Verlust.

Ein Gedicht ist ein Spiel
ist ein Spiel um Gewinn,
um Verlust.

Es ist immer das Scheitern, das droht,
und die Lust
am Gewinn neuer Sichten auf diese Welt ...

... am Gewinn neuer Welten überall ...

3

Wie formt man die Widersprüche? Wie lernt man wieder sehen?

Wie wieder hören – wieder fühlen – wieder ...
... SCHREIBEN ???

Wo bin ich diesmal wohl zu Haus?
Und wenn nicht, welche Fremde ist das?
Und – gehört sie mir?

4

schwer dichten
dicht machen
die welt
vordergründig

einfach

bist du nicht
mit so vielen engen
kreuzen gewoben
zerstrickt und
beschnürt

so

einfach gewoben
das geht nicht
wieder

zu dichten

außer
der welt

wird schwer

du

5

Die Form war das Problem

Wie bringt man das unter einen Hut, Komplexität und Inhaltsverschiebung je nach Kontext, dann, wenn es doch nur ein einzelnes Gedicht sein kann, was dies erfassen soll?

Ich hatte lange probiert, die verschiedensten Stile und Formen, bis eines Tages das da war:

versoffen hängt der mond im dunst

Das war ganz konkret: ein dunstiger Morgen, ein voller Mond, gerade eben so klar erkennbar, dass er da war und doch auch wieder nicht, wie hinter einem Schleier: versoffen halt ...

Das blieb so ein paar Jahre stehen. Es ließ sich kein Platz dafür finden. Bis eines Tages folgende Zeile kam:

im dunst über den dächern der städte treibt unfrieden

Irgendwie, ich weiß nicht mehr warum, verbanden sich die beiden Zeilen, ungefähr so:

versoffen hängt der mond im dunst
im dunst über den dächern der städte treibt unfrieden

Das flirrt in diesem Text, Unruhe ist darin, aber undeutlich, schwebend, will bereinigt sein. Ein probates Mittel ist, die Zeilen aufzubrechen, umzuordnen:

versoffen hängt der mond
im dunst
im dunst
über den dächern der städte treibt unfrieden

So befriedigt das aber keineswegs. Das verdoppelte "im dunst" - es stört. Warum nicht eines streichen:

versoffen hängt der mond
im dunst
über den dächern der städte treibt unfrieden

Ein Aha-Erlebnis! Plötzlich steht es da: Sie bilden eine Einheit, die drei Zeilen, und sind doch getrennt, je nach Lesart, zwei und zwei hängen sie zusammen und können doch im Ganzen nicht voneinander lassen.

Ab da floss es fast von alleine. Es ging so weit, dass ich in Komplexen zu denken begann, dass die Verschränkung schon da war, bevor noch die erste Zeile auf dem Papier stand: Die Sicht auf die Welt hatte sich durch einen technischen Trick grundlegend verändert.

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Es ist natürlich auch hierbei nichts völlig neu unter der Sonne. Das fand ich Jahre später zufällig beim Blättern im Lexikon heraus: Die Technik des Verschränkens unabhängiger Satzfragmente durch einen gemeinsamen dritten Teil nennt sich apokoinu (mit Betonung auf dem u). Im Mittelalter war sie beliebt. Und Enzensberger hat sie einmal intensiv verwendet. Das wusste ich alles nicht. Für mich war es neu. Und es blieb mein Eigen, bis heute.

Apokoinu war nicht der einzige Grund.
Entscheidend war auch, dass und wie es damit weiterging
mit dem versoffenen Mond und dem Unfrieden über den Städten:

6

technisches ende

versoffen hängt der mond
im dunst
über den dächern der städte
treibt unfrieden
im morgen
schleift seine messer
der horizont

zeiten gleiten
vorbei
über die flüsse
tränken nebel wälder
faulig voll

vergangenheit
in bloßer existenz

ersäuft
wurden die leben
beraubt haben sie
seiner herrlichkeit
den tod

die räuber
hausen
in zahlentürmen
in vollkommener präzision
rechnen
die mörder

dem leben
in exakten ruinen

ausdauernd
gelagert
saugt
information die
beweglichkeit
heraus

in dauerlosigkeiten

gehetzt
kollabieren
ereignisse
auf ewig
gebannt
in formeln
verstoßen
aus aller
zeit

noch

hängt der mond
versoffen
unter den dächern
erstickt
menschlichkeit
in ausgerichteten mauern

hinter den wäldern
am fluss
gibt es noch blumen

7

Lesarten

Das Verschränken zweier Zeilen über eine dritte war nur der Anfang. Ein intensives Suchen nach verwandten Möglichkeiten setzte ein.

  • Ein Text will gestaltet sein. Er muss nicht nur dem Ohr, er muss auch dem Auge gefallen.
    Es geht nicht an, die verbundenen Teile als einen einzigen Block zu setzen. Die Zeilen wollen in Verse gegliedert werden.
     
  • Es gibt in der Regel nicht nur eine Möglichkeit, einen verschränkten Text zu gliedern.
     
  • Mit jeder Gliederung bietet sich dem Betrachter eine andere Lesart des Textes an.

nicht im wein mond

1

weit sieht
hier der wein

da fällt

durch unsern berg
im vollen mond
dein steiler schatten

nein

nicht so
bin ich um dich
durch den berg gegangen

ist der mond
weit im hang

gräbt mein schatten
tief hinein

in dich da

komm ich hier
kaum diese nacht

im vollen wein
zu diesem mond

2

weit sieht

hier der wein
da fällt
durch unsern berg

im vollen mond
dein steiler schatten

nein
nicht so
bin ich um dich

durch den berg gegangen
ist der mond

weit im hang
gräbt mein schatten
tief hinein

in dich da
komm ich hier

kaum diese nacht
im vollen wein

zu diesem mond

3

weit sieht
hier der wein

da fällt
durch unsern berg
im vollen mond

dein steiler schatten

nein
nicht so

bin ich um dich

durch den berg gegangen
ist der mond

weit im hang
gräbt mein schatten

tief hinein
in dich da
komm ich hier

kaum diese nacht

im vollen wein
zu diesem mond

Zumeist ändert sich nur der Blickwinkel etwas. Die Farbe, der Kontext verschiebt sich ein wenig, je nachdem welche Verklammerung durch das Gliedern hervorgehoben wird.

Mitunter kann sich der Sinn vollständig verkehren.

Man muss sich letztlich für eine Form entscheiden. Eine sieht am besten aus. Eine kommt den Vorstellungen, dem "Gefühl" beim Schreiben am nächsten.

Die anderen Lesarten bleiben dennoch erhalten.
Und sie wollen entdeckt werden.

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Dabei bleibt es aber nicht. Es gibt noch mehr Möglichkeiten, verschiedene Lesarten durch geeignetes Gliedern in ein und demselben Text anzubieten.

Mit zwei Möglichkeiten habe ich hin und wieder experimentiert:

  • Den Text durch Einzüge gliedern.
    Diese Einzüge sind dann nicht willkürlich, sondern geben verschiedene Wege durch den Text vor.
    • Er kann im Block linear, Zeile für Zeile gelesen werden, ohne sich um die Einzüge besonders zu kümmern.
    • Er kann Einzugsebene für Einzugsebene gelesen werden, immer von oben nach unten an derselben Einzugsebene entlang, Einzugsstufe für Einzugsstufe.
       
  • Alternativ kann der Text auch versweise in Pfade gegliedert werden.
    Dann gelten die Einzugsstufen nicht für das Gedicht insgesamt, sondern geben nur Abschnitt für Abschnitt, Vers für Vers einen Sinn.
     
  • Den Text durch Hervorhebungen gliedern.
    Die zusammenhängenden Elemente können über den ganzen Text verstreut sein. Dann bietet sich ein Hervorheben durch gleichartige Auszeichnungen an. Kursiv bewährt sich da ganz gut:
    Neben dem Gedicht in seiner Gesamtheit bilden die gleichartig ausgezeichneten Zeilen eine eigenständige Einheit.
    So entsteht ein begleitender Text, oft ein Kommentar zum eigentlichen Block, in dem Gedicht.

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Es ist noch komplizierter. Solche Hervorhebungen müssen durchaus nicht immer zur Strukturierung dienen. Ihr ursprünglicher Zweck, das Besondere jener Textstelle innerhalb des Gedichts erfahrbar zu machen, bleibt erhalten.

Man muss lesen, lesen, lesen.
Dann erschließen
sich langsam
die Einzelheiten.

Das gilt auch für den Schreibprozess.
Ohne ständiges Lesen
und Wiederlesen
geht gar nichts.

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Dieser Text zum Beispiel

lässt sich auch derart aufgliedern.
Dann entsteht über drei Einzugsebenen ein mehrfacher Pfad durch das Gedicht,
wobei der Text in diesem Fall zusätzlich in drei Verse gegliedert ist
und jede Einzugsgliederung sich allein auf ihre Verseinheit bezieht.

(Um es deutlich zu machen: Zuerst werden in jedem Vers alle roten, dann alle grünen, dann alle blauen Zeilen gelesen.)

Nicht vergessen: Der Vers als Gesamtes, ohne Zusatzgliederung, will auch gelesen sein.

1

weit sieht
    hier der wein
        
fällt
        durch unsern berg

    im vollen mond

dein steiler schatten

2

nein
nicht so

    bin ich um dich
    durch den berg gegangen

ist der mond auch
weit im hang

3

    gräbt mein schatten
tief hinein
in dich da

    komm ich hier
kaum diese nacht
im vollen wein

    zum mond

So etwas geht nicht jedesmal.
Man muss von Fall zu Fall neu suchen.
Es gibt immer wieder Entdeckungen zu machen.

... auch für den autor ...

Für den Schreiber ist so etwas gefährlich!
Wenn man nicht sehr aufpasst, gerät man
in rein formal manieristische Spielchen hinein.
Dann verlieren die Sachen gar zu leicht all ihre Kraft.

8

Das Deuten hängt davon ab, ob und wie man sich der Welt zugehörig fühlt.

die menschen fühlen sich klein
sprechen sie
unter den sternen
bleibe kein platz

 
für mich
sprechen die sterne
vom dabeisein
gemeinsam mit allen
menschen fragen

Das ist der realistische (nicht der optimistische) Weg.
Ist es nicht so, muss man anders lesen.

Die Fragen und die Zweifel bleiben dabei.
Nur die Lösung rückt näher oder ferner, je nach ihrem Platz in der Welt.

 

9

Ein guter Text bewegt sich

Besonders in Gedichten.

Irgendwann kommt fast jeder Text zum Stillstand.
Einfach nur, weil es nicht weiter geht.
    Oder weil einer keine Lust mehr hat.
        Oder weil der Text – oh Wunder – FERTIG ist.

Normalerweise aber – oft bei jedem Wiederlesen – muss man ändern, ändern, ändern.
Und wenn es nur Kleinigkeiten sind – der Text will es so.

So ein Text lebt aus sich selbst
auch im Betrachter
weiter fort.

Natürlich ist so etwas nicht neu.
Aber man muss sich dessen bewusst bleiben,
dass so ein Gedicht,
manchmal nach Jahren gelesen,
ganz aus sich selbst zum Fortschreiben zwingt.

So entstehen manchmal
ganz unterschiedliche Fassungen
aus ein und derselben Anfangsidee.

Und jede ist für sich alleine wichtig!

Es ist wichtig für den, der schreibt.
Aber auch für den, der liest,
für den, der – hoffentlich – im Text zu leben beginnt
    und in dem der Text lebt
        und sich bewegt
            und weiterträgt.

Denn ist meine Welt in anderen zum Leben gekommen,
und hat sie sich von mir letztendlich frei gemacht –
Dann hat das Schreiben sich
     für mich
        für sie
            und für den Text
                 gelohnt.

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Nachtrag im Jahre 2008

Das war 2002 geschrieben worden. Lange, über zwanzig Jahre, ist das her, dass erste Experimente mit Apokoinu mich überfallen hatten. Und im Großen und Ganzen stehe ich nach wie vor dahinter.

Aber die Zeit geht weiter, das Leben und wie man darin stehen mag, all das ändert sich trivialerweise.
Mittlerweile bin ich längst nicht mehr so formalistisch streng.

Die optische Gestalt eines Gedichts, sein Klang im Wechsel von Lang- und Kurzzeilen hat mich durch die letzten Jahre mehr und mehr beschäftigt.

Apokoinu ist nach wie vor wichtig, drängt sich auch immer wieder vor und will mitunter mit Gewalt bekäpft werden.
Aber das Herausarbeiten formaler Bezüg durch unterschiedlichstes Gruppieren von Lesarten habe ich hinter mir gelassen. Es trägt nicht mehr.

Wenn man so will - ich bin traditioneller geworden.
Doch die eigene Sprache ist mir noch geblieben.
Und sie entwickelt sich - ganz natürlich - stetig fort.

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