Schreibprojekte
von
Bernd Pol

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Hier stehen angefangene Texte, an denen gerade geschrieben wird.
(Im Großen und Ganzen zumindest.)

Zur Zeit ist das:
Licht – Fast ein Poem
1 Wasser und Brot (Fassung vom 24.10.2005)
2 Vogel im Baum (Fassung vom 24.10.2005)
3 Schrottphilosophie (Fassung vom 26.10.2005)
4 Grablegung (Fassung vom 30.10.2005)
5 Gewittersturm (Fassung vom 6.11.2005)
6 Lichtaugenlicht (Fassung vom 16.11.2005)
7 Erinnern können (Fassung vom 21.11.2005)

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Bitte beachten Sie auch bei diesen unfertigen Texten das Copyright.
(© Bernd Pol 2004, Alle Rechte vorbehalten.)

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Licht

1 Wasser und Brot

Den letzten Brocken vom Brot weicht er im Pfützenwasser auf und schiebt ihr den Brei mit der hohlen Hand in den Mund. Dann wartet er, eine Hand auf ihren Lippen, die andere zur Kontrolle seitlich leicht an ihrem Hals, dass sie schluckt.

Sie schluckt immer. Mitunter dauert das, aber sie schluckt und sie hat sich während all der Zeit kein einziges Mal richtig verschluckt. Nicht, wenn er aushält bei ihr, wenn er knien bleibt, die Hände nicht fortnimmt von Mund und Hals, nicht vor der Zeit, damit kein Tropfen Brei ihr durch die Lippen läuft.

Sicher ist er sich bei alledem nicht. Er hat nur die Hände für sie, denn es ist stockfinster hier, nicht die geringste Spur von Licht. Lediglich spüren lässt sich da. Wie sie sich bewegt, zum Beispiel, und ob sie schluckt. Das hat er mittlerweile gelernt. Spüren, bis jenes besondere Sehen einsetzt. Bis sich etwas wie ein Bild in ihm formt, schattenlos nur und unwirklich, kaum zuverlässig, aber ein inneres Bild immerhin, grau in grau, und sie in ihrer Ecke rötlich glühend mittendrin.

Es ist nur inneres Glühen. Er sieht sie nicht wirklich. Glühen ohne jegliche Form. Zum Erkennen aber genügt es, dazu, sie wiederzufinden. Ein Körper liegt dort, der glüht wie Eisen im Feuer, doch das Feuer ist grau, tiefgrau, formlos auch dies, aber ganz eindeutig Feuer, eine graue, feurige Wolke dicht um ihr Glühen herum.

Zwei Wasserpfützen stehen tiefschwarz in diesem Bild. Die kleinere in der Ecke hinter ihrem Kopf nutzt er zum Waschen. Die andere, mitten im Raum, muss zum Trinken herhalten, in die läuft nämlich all die Zeit ein dünner Wasserstrahl von irgendwo dort oben hinein.

Ob dieses Wasser sauber ist, lässt sich nicht sagen. Immerhin, es schmeckt nicht mehr so dumpf nach Schutt wie in jenen ersten Stunden, als draußen Regen fiel und massenweise Dreck herunterspülte. Den Regen weiß er nicht, er nimmt ihn nur an, in den kurzen Momenten, wo ihm der Kopf etwas klarer ist. Dann kombiniert er sich die Welt aus Möglichkeiten zurecht. Zumeist tippt er auf eine geborstene Leitung, weil das Wasser ja immer noch läuft. Oder andauerndes Löschwasser, in den ersten Tagen zumindest, falls es irgendwo überhaupt so etwas wie Tage gibt. Obwohl, nach Brand roch das nicht, glaubt er sich zu erinnern, damals, als alles frisch war und Gerüche sich noch unterscheiden ließen.

Mittlerweile machen solche Feinheiten keinen Sinn mehr. Es stinkt kaum zum Aushalten. Pisse und Scheiße ist das natürlich, sie haben nun mal nur diesen einen Raum und sie dort in der Ecke kann er nicht bewegen. Doch das ist es nicht. An die Sorte gewöhnt man sich in kurzer Zeit. Was er nur mühsam aushält, ist jener widerlich süße Gestank nach Tod, der überall durch die Spalten dringt und gegen den sich nur helfen lässt, wenn man sich das Riechen verbietet.

Das allerdings hat er bereits als Kind perfektioniert.

Durch den Mund atmen. Ausschließlich, konsequent durch den Mund. Das Zäpfchen steuern. Den Nasenrachen abblocken. Nicht den leisesten Hauch durch diese Nase lassen.

Gelingt das, so riecht man wirklich fast gar nichts mehr.

Doch es gelingt nicht. Es lässt sich nicht durchhalten. Der Tod dringt trotzdem ein, schiebt sich vor bis zum Erbrechen, kriecht durch Krämpfe und Schmerzen, füllt noch die innersten Winkel aus, und man kann sich dagegen nicht wehren.

Dabei geht es ihm immer noch besser als ihr hier unter dem Schutt. Seit er sie entdeckt hat, liegt sie im Koma. Das muss Tage her sein, Wochen vielleicht, Monate, Jahre – es gilt ihm gleich. Er hat kein Zeitgefühl, weiß nicht einmal, was das ist, Zeit, kennt nur noch: „Damals … am Anfang.“ Sonst blieb ihm nichts. Nicht einmal hier und jetzt kann er begreifen. Wörter tauchen manchmal auf: Gestern, Heute, Morgen. Sie tragen keine Bedeutung mehr.

Nur „damals“ noch, und manchmal: „Als die Frau kam.“ Diese hier, mit der ihn nichts weiter verbindet als rein kreatürliche Sorge: Leben soll sie. Rühren soll sie sich. Sprechen soll sie zu ihm.

Denn das fehlt. Da ist niemand, der zu ihm spricht. Es kommt nichts von ihr, außer einem leichten Zittern vielleicht, manchmal, wenn er sie frisch be­rührt.

Und dass sie isst und trinkt. Wenigstens etwas. Auch wenn es anstrengend ist und dauert, während er auf dem Schutt knien muss und sich nicht zu rühren getraut.

Sie hat geschluckt. Endlich!

Jetzt kann er ihr den Kopf sacht auf die Steine zurücklegen, kann hinunter­klettern, sich strecken, die vom Schutt schmerzenden Knie massieren, zu­rückgehen, fünf vorsichtige Schritte zur Wohnecke hinüber, die so heißt, damit er das Leben nicht gänzlich verliert.

Einen Teil davon kann er sogar aufrecht gehen. Die Decke ist nur in der Ecke über der Frau heruntergebrochen. Aber weil ihn im Finstern der Schutt ohnehin zum Kriechen zwingt, stört das nicht weiter. Hauptsache, er kann sich auf den paar Schritten nach der Wasserpfütze strecken. Das allerdings braucht er, sonst würde er sich gefangen fühlen wie in einem allzu niedrigen Käfig.

Blödsinn! Natürlich ist er gefangen. Natürlich ist das ein Käfig hier. Nein, schlimmer. Verbindet ein Käfig einen doch wenigstens mit Draußen, irgendwo, irgendwie.

Aber hier? Hier gibt es gar nichts mehr. Fast nichts. Schutt nur noch und Gestank. Und Wasser, das von irgendwo dort oben herunterläuft.

Wasser! Das prüft er unablässig nach. Immer wieder muss er zur Pfütze hin­über um die Hand über das Tiefschwarze zu halten. Wird sie nass, ist der Strahl noch da. Würde sie es nicht – das mag er nicht einmal denken.

Wenigstens sind ihm zum Prüfen die Hände geblieben. Hören kann er den Wasserlauf nicht. Kein Rinnen, kein leises Plätschern, all das geht unter im inneren Lärm, ertrinkt in dem, was ihm tagein, tagaus durch Schmerzen, Gestank und Sorge den Schädel durchbrüllt.

Kurz, er sieht nicht mehr, er hört nicht mehr, er spürt nur noch. Wasser spürt er, die Frau in ihrer Ecke spürt er, den Schotter unter ihr. Und die heruntergebrochene Decke darüber, an der er sich fast jedes Mal aufs Neue stößt. Doch das nimmt er als Zeichen. Gäbe es von Zeit zu Zeit diese Extraschmerzen nicht, ihm wäre alles noch unwirklicher – vor allem das Eine, nämlich, dass er noch lebt.

Kaum etwas erscheint ihm noch wirklich hier unten. Nachdem der erste Schock verging. Als er zu spüren begann. Als da nur noch er selbst war und Dunkelheit und Schmerz und Lärm in seinem Kopf.

Und als das erste Erschrecken kam und er merkte, dass er nicht wusste, wer er war und wo und warum. Nur das noch: „Was, um Himmels willen, ist hier eigentlich los?“

Eigentlich. Er empfindet das so. Wissen kann von alledem nichts. Er hat sich lediglich abgefunden. Es drückt nicht mehr so. Er hat sich arrangiert, hat aus dem Geschehen einen Platz für sich gefunden und eine Aufgabe mit der Frau drüben unter dem Schutt.

Zwei Aufgaben im Grunde, denn das Prüfen des Wasserstrahls gehört noch dazu.

Zunächst aber gab es hier nichts. Gar nichts. Nur das „um Himmels willen“ war von Anbeginn da. Sonst nichts. Kein Wissen. Kein Erinnern. Nur bloßes, von Schmerzen durchdrungenes körperliches Sein.

Irgendwann aber hatte er diese Hände gespürt und dass sich von ihm bewegen ließen. Ungewohnt, zufällig eher. Aber immerhin, sie gehörten anscheinend zu ihm. So nahm er zumindest, nur schwach überzeugt, fürs Erste vorsichtig an. Wichtig war, dass sie gehorchten und dass sie ihm eine erste, mühsame Spur ins Unwirkliche schufen.

Auf der Spur kam der Schutt, dann die Frau, danach erst das Wasser, was ihn immer noch wundert, dass es nicht vor allem anderen da war, dann kam lange nichts und dann, als er schon dabei war Dreck zu fressen, da kam das Brot.

Das war das erste richtige Wunder. Er hatte es gesehen. Mit inneren Augen wirklich gesehen: Es glühte goldrot unter der Frau hervor, und es war das erste, was sich als Einzelnes wahrnehmen ließ. Zwei Wunder, Essen und Sehen, Sehen und Essen. Und die Frau eisenrot leuchtend mitten darin.

Obwohl, die Frau wurde erst hinterher deutlich. Erst war das Brot in seiner goldroten Glut, und womöglich hatte er geschrien, doch dann kam die Frau noch dazu, und die legte sich mitten darauf. Im Bild natürlich nur, in diesem inneren Bild. Das Brot musste wohl immer schon unter ihr gelegen haben.

Logisch. Nein: Folgerichtig ist das. Logisch ist gar nichts mehr hier unten. Jedenfalls nicht so, dass er weiß, dass er sich auf die Logik verlassen könnte.

Auf nichts kann er sich hier verlassen als allein auf diese Hände. Und selbst da weiß er nicht sicher, ob sie wirklich zu ihm gehören.

An das was dann kam, kann er sich nicht recht erinnern. In klaren Momen­ten versucht er Rekonstruktionen, um der Zeit zu entrinnen. Vielleicht war er hinübergestolpert, war durch die Pfütze gepatscht, mit Wasser im Nacken über die ersten größeren Brocken im Schutt gekrochen, hatte den Kopf angeschlagen, war geklettert, gerutscht, bis oben hinauf, hatte gewühlt nach dem Brot bis ihm die Hände blutig wurden.

So erzählt er es sich.

Vielleicht war es auch ganz anders gegangen und er hatte die Tasche ertas­tet, ganz zu Anfang schon, als er die Frau freizuräumen suchte, und den Jutebeutel nur mit Mühe unbeschädigt unter ihr hervorziehen konnte.

Es wäre logischer, folgerichtiger. Aber nicht so interessant.

Aber es war Brot. Und es kam, als er beinahe schon aufgegeben hatte. Das ist fest in ihm verankert. Denn auf dieses Brot kam es eigentlich an.

Es war sogar viel Brot, zwei große, altbackene Laibe. Und ein winziges, steinhartes Brötchen in einer Tüte, das fraß er mit einiger Mühe sofort. Dessen Tüte wiederum, das erkannte er, war aus Plastik, und irgendein fernes Erinnern brachte ihn dazu, einen Becher aus ihr zu formen und erstmals wieder zu trinken wie ein richtiger Mensch.

Danach war ihm speiübel und er begann zu bereuen. Denn das Brot gehörte nicht ihm, es war ihr und er hatte es lediglich für sie zu hüten.

Also hütete er, verbarg es vor den Ratten im Beutel, den an einem freiliegenden Eisendraht in seiner Ecke aufgehängt hatte. Dann begann er zu sparen, teilte immer ihr zwei mühsam abgebrochene Stücke zu und sich eines, fraß lieber Dreck, wenn ihn der Hunger gar zu schlimm überkam, doch das geschah nicht mehr oft in dieser Zeit.

Was jetzt wird, weiß er nicht, will er nicht wissen. Den letzten Bocken vom Brot hat sie geschluckt. Jetzt bleiben nur noch Pfützenwasser und Dreck für sie beide. Und ein letztes Wegdämmern in ihren jeweiligen Ecken, ein letztes Träumen vielleicht, wenn sie Glück hatten, ein letztes, unsicheres Erinnern noch.

(Copyright © Bernd Pol, 25.04.2004)

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2 Vogel im Baum

Träume wie Märchen.

Es war einmal ein Kind, das lebte hoch in einem Baum. In diesem Baum, da hatte es ein Haus.

Fast wie Märchen.

Ein Apfelbaum war das.

Märchen? Nein. Doch. Im Grunde ungelogen. Und trotzdem – beinahe gar nicht wahr.

Es lebte nicht im Apfelbaum, das Kind. Ganz sicher nicht. Schwester und Bruder gab es dort. Jedoch kein Haus im Baum, auch ihnen nicht. Der Baum war selbst ihr Haus, zum größten Teil ein starker, oft verzweigter Ast. Ein zweiter, dritter noch dazu, schräg davon, halb vom Stamm verborgen.

Vielleicht. Sofern das Erinnern nicht trügt. Möglicherweise lebten sie dort. Manchmal. Zumindest aber von Zeit zu Zeit.

Vielleicht nicht mal im Apfelbaum? Birne könnte es gewesen sein, die hat dichteres Laub. Oder womöglich gar kein Laub? Ein nackter Pfahl nur mit Ästen und Plattformen und aus Tarnbahnen abgehängten Blätterdecken.

Und sonst? Nichts …

Zeichen verschwimmen über Raum und über Zeit.

Das Kind aber bleibt und es war klein und blieb klein und musste noch lange auf den Ast hinaufgehoben werden, waren Bruder oder Schwester dort oben. Wollte man da nicht alleine sein, musste man unten am Stamm eben weinen, schreien, greinen.

Greinen, bis einer kam, der groß war und laut, der einem in die Zweige half und nachdrücklich ermahnte, auf gar keinen Fall herunterzufallen. Schwester und Bruder aber sabotierten und schubsten, sobald niemand hinsah. Dadurch hatten die Hände ganz von alleine im Baum das Suchen, das Greifen, das klammernde Halten gelernt.

Ein Lager aus Zweigen hat er für seine Träume gebaut, ein Polster aus Nadeln in einem riesigen, modrigen Korb, der sich in der Wohnecke halb unter Steinen begraben fand. Jemand hatte dort Lumpen und Tannenreste gesammelt, die trampelte er sich zu einem Bett zusammen und deckte all das mit seinem Wintermantel ab.

In dem hat er es nun mehr sitzend als liegend bequem, wenn er döst oder schläft, und wenn er die Mantelknöpfe über sich schließt, wird ihm sogar beinahe angenehm warm.

Doch wird er dann wach, da haben die Hände sich meistens herausgeknöpft, ganz von alleine, und hängen über den Rand und zucken und greifen ins Leere. Sie suchen hier unten, die Hände, ständig sind sie am Suchen, nach diesem Ast wohl, der ihn noch hält und vor dem letzten, endgültigen Abstürzen bewahrt.

Ein einziges Mal stürzte es ab, das Kind. Da durfte es drei lange Wochen nicht wieder zurück in den Baum. Doch wie das Bein wieder gipsfrei war, hing es auch über der Gabel droben im Ast und das Kind sah zu wie Schwester und Bruder von nun an für sich ganz alleine wohnten. Hatten wohl beschlossen es nicht mehr zu beachten in seiner Ecke im Baum, falls es nur Ruhe gab, und es gab Ruhe, lernte, wie man die Augen schließt als blende das Licht und anteilslos durch die Wimpern nach ihrem Wohnen schaut, schräg dort hinter den Blättern auf ihrer anderen Seite vom Stamm.

Ohne Anteil, ja, es ist lange zu klein, dieses Kind, soll noch Jahre so bleiben, an Gliedern zu klein, vielleicht auch klein an Gedanken. Es verstünde nicht, glaubt man, und weil es ruhig bleibt, wird es allmählich Bruder und Schwester wie ein Möbelstück unbeachtet vertraut.

Es versteht, versteht nicht, schaut nur, wie Schwester und Bruder durch die Jahre wachsen, nichts entgeht ihm im Baum, auch als drüben schräg auf der anderen Seite vom Stamm aus alten Decken und Schnüren eine Zeltwand entsteht.

Sehen. Nicht sehen. Gesehen, nicht gesehen werden.
Da sein. Dabei sein.
Mitleben.

Die Hände zucken und suchen und greifen und zucken zurück. Das weckt ihn vom Baum, und wie er ins Dunkel auffährt, huscht es fort vom Korb, nur Funken im inneren Bild, die aber flink und goldrot glühend.

Ratten!

Bevor er noch denkt, handelt die Hand. Da fliegt ein Stein, ein Kleinkinderschrei bricht durch den inneren Lärm in seinem Kopf, dann liegt es still am Spalt bei der verschütteten Tür und glüht samtrot und zum Verlieren schwach wie Kerzendocht kurz vor dem Verlöschen.

Sie zappelt noch wie er sie greift und windet sich, und kaum dass er spürt, dass sie noch beißt, holt auch die Hand schon aus und klatscht das Vieh am Schwanz gepackt wie einen Sack gleich bei der Tür gegen die Wand.

Danach ist Ruh.

Die erste Ratte ist das nicht. Ekel kennt er schon lange nicht mehr. Falls es überhaupt je Ekel gab, seit er samt glutrotem und schwarzem Gelichter in grauen inneren Räumen hier unten lebt. Da ändern sich alle Gesetze.

Allerdings durchzittert es ihn dann doch, von innen heraus, wie er mit den Zähnen an Fell und Fleisch reißt und schlürft und kaut, doch kann das auch schlicht vom Hunger, von der Kälte im Keller hier unten sein.

Besser als Dreck ist Ratte allemal.

Nur, als er sich in den Mantel zurückknöpft, dauert ihn einen Moment, dass für sie dort drüben unter dem Schutt nichts geblieben ist. Falls sie es vertrüge, überhaupt, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Das hält nicht vor. Er träumt er sich lieber rasch wieder zurück auf die Astgabel in seinen Baum.

Einen Vogel hatten sie drüben gefangen, der hing eine Zeit in einem improvisierten Käfig verborgen hinter dem Zelt. Verborgen, ja. Unsichtbar, nein. Durch die Spalten war er zu sehen, neigte das Kind den Kopf ein wenig zur Seite, und es wartete geduldig, dass er endlich mal tanzte, endlich mal sang.

Vergebens. Er hockte nur, ließ Schnabel und Flügel hängen und drei Tage darauf, oder schon früher vielleicht, lag er mit verdrehten Flügeln steif auf dem Bodengeflecht und krümmte die Krallen zum Himmel hinauf, ein letztes Stück Leben womöglich von dort oben zu packen.

Es kümmerte keinen, Schwester nicht und Bruder nicht. Er hing dort, bis er stank, dann warfen sie den Käfig durch die Zeltspalten hinüber in seinen Schoß, und das Kind wagte den restlichen Tag keinen Mucks, denn es könnte ja sein, dass er nun endlich aufstand und tanzte und sang, nur ihm zu Gefallen, falls es nur still genug bliebe und seinen stinkenden Schlaf nicht störte vor der richtigen Zeit.

Es liegt etwas über der Stille, das weckt ihn, doch dann ist da erst nur ein scheußlicher Geschmack im Mund, von altem Rattenblut vermutlich, und die Zunge tastet nach Fellfetzen in den Lücken zwischen den Zähnen und Knochensplittern zwischen Kiefer und Backe und Zahn.

Durch all den inneren Lärm aber drängt gefährliche Stille in den Kopf und wie er sich aufsetzt, in der Manteltasche nach dem gefalteten Becher tastet, da erreicht es ihn, dass drüben unter dem Schutt das Leuchten am Ausglimmen ist.

Er begreift erst nicht, steht nur und starrt und die rechte Hand knüllt den Becher immer wieder auf und zu und zu und auf, und es glimmt dort, wo die Halde sein müsste, nur noch wie Kerzendocht, samtrot und zum Verlieren schwach, kurz vor dem Verlöschen.

Dann sucht er lange die Pfütze, findet sie nicht dort, wo sein inneres Bild sie verlangt. Schon reißt Panik an ihm, da hat er doch plötzlich das Wasser, füllt zitternd den Becher, spült sich den Mund, schluckt, und mitten im Schlucken wächst aus der Angst der Verdacht, der Strahl sei wesentlich schwächer geworden seit seinem letzten Besuch.

Wie er so äußer- und innerlich bebt und mit der linken Hand den Wasserstrahl prüft, kommt das Verglühen von nebenan näher, immer schwächer dabei, ein Glimmen nur noch, doch das breitet sich aus, ein glimmender Ball, wohin er auch schaut, an jedem Ort, jeder Stelle im Raum. Da verliert seine Hand ihren Strahl, er fährt mit dem Wasser übers Gesicht, spürt, wie er schreit, und starrt auf die Hände, fremde, pechschwarze Klumpen mitten im ausglimmenden Ball.

Was tun?
Was tun!

So stopft er den zerknüllten Becher rechts in die Hose, tastet sich vor zum Geröll, weiß, dass er schreit, hört aber nicht, sieht nicht, nur die pechschwarzen Hände sind da, die graben und wühlen und suchen im Schutt ohne sein Zutun mitten im glimmenden Ball nach dem restlichen Leben der Frau.

Tanz, Vogel, tanz!
Groß bist du gewachsen, seit es dich gibt. Kein Käfig hält dich jetzt mehr, schau, ich hab ihn zerrissen. Nun tanz endlich, tanz! Hör nicht auf die dort, die gelten nicht mehr. Mein bist du, mein! Also tanz, gib nicht auf, tanz, tanz weiter, immer nur weiter!
Schau doch, ich tanze mit dir.

Wie er sie dann endlich berührt, am Hals, da zittert sie und hört nicht auf und die Hand bemerkt, wie sie rasch und flach atmet und dabei andauernd krampfartig schluckt. Und wie dann die andere Hand an ihrer Stirn die Gluthitze spürt, ist das wahrscheinlich einzig Richtige ganz aus sich heraus da.

Wasser!

Da tanzt es ihn ohne Stolpern zur Pfütze hinunter und mit dem gefüllten Becher wieder oben hinauf, und er schafft es, ihr über Hälfte einzuflößen ohne dass sie sich im Zittern verschluckt, und er denkt darüber nicht nach, kniet nur, streicht ihr von Zeit zu Zeit mit wassergefüllter Hand über die Stirn, kniet und wartet, dass ihr das Zittern, ihr inneres Tanzen vergeht.

Und dass sie bei all dem bloß nicht verlöscht.
Das ist das Wichtigste dabei.

Jetzt tanzt der Vogel nicht mehr. Er hat nie alleine getanzt. Jetzt liegt er mit verdrehten Flügeln dem Kind auf der Brust und streckt die Krallen zum Himmel empor, hinauf in den Baum, die Äste hindurch und das Kind starrt mit und versucht auf dem Boden zu Atem zu kommen nach dem Aufschlag aufs Kreuz, der ihm die Luft aus den Lungen getrieben hat, und wägt ab, ob es jetzt weinen soll oder doch lieber nicht, solange der Schmerz noch nicht da ist, denn das Bein, das soll ja nie wieder in Gips.

Schlaf, Vogel, schlaf! Deck mich mit deinen Flügeln zu. Wachsen darfst du, gerne, bis in den Himmel hinauf. Nur verbirg mich hier unter den Ästen, damit Schwester und Bruder jetzt nichts bemerken.

Jetzt nicht und nie wieder mehr, Vogel.
Hörst du?
Nie mehr.

Dann liegt er wieder im Korb und weiß nicht recht, wie. Schlägt die Augen auf und schaut, und wie es noch sachte glimmt drüben wie Kerzendocht, der nun doch nicht verlöscht ist, fällt er wieder zurück auf sein Bett und wartet, ob er vielleicht noch einmal zurück kann in seinen Astgabelhalt im Märchen vom Vogel im Baum.

Schlaf, Baumvogel, schlaf!
Ich bau dir auch mal ein richtiges Grab.

Aber jetzt noch nicht, nein.
Jetzt nur, Vogel, schlaf!

(Copyright ©Bernd Pol, 13.05.2004)

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3 Schrottphilosophie

Wie kannst du nur leben, ohne richtig zu sein?“

Philosophie? Nein. Kein Philosoph ist das.

Da hockt bloß mit hohlen Wangen und Stoppelbart ein versoffener Spinner zwischen Schrottbergen, die er tagsüber sammelt, im Dorf zumeist oder von wilden Müllkippen am Stadtrand, und die er abends sortiert, wozu viel Flaschenbier gehört und laut herausgegrölte, zotige Stegreifgesänge, eingegeben von den um seine Petroleumfunzel wabernden Schatten, dann, wenn er im Hof hockt am Schrott und es schon nicht mehr Tag ist, aber noch lange nicht richtige Nacht.

Gröhlen und fragen, ja. Aber kein verkannter Philosoph.

Wahrlich nicht, keine Spur von Romantik. Gerade, dass er Schlagzeilen zu entziffern weiß, die großen nur, oben auf den Zeitungen, welche er tagsüber sammelt. Hilfsschule, mit Mühe, hat er halt und danach hatten sie ihn weit hinten im Hof in einen Schuppen gesteckt und ihm den alten, schweren, zweirädrigen Leiterkarren von dort überlassen.

Soll er sich Brot, Bier und Wurst doch selber verdienen. Logis hat er frei. Mehr mag keiner der Seinen hier für ihn tun.

Wie kannst du so leben?“

Das ist seine ständige Frage. Mit der überfällt er die Welt. Antworten sucht er, eine einzige Antwort vielleicht nur, die er nie finden wird, auch viel später nicht, wenn er Strom haben wird in seinem Schuppen und einen uralten Fernseher, den er statt Zeitungsschlagzeilen befragt. Doch da wird er noch älter sein und längst nicht mehr selber sortieren. Ein paar Jahre macht das noch ein Schrotthändler für ihn, bis auch der nicht mehr kommt und er nur noch alleine im Schuppen herumhängt, gröhlend Schatten besingt im Fernseh- statt Petroleumfunzelschein und irgendwann einsam im Erbrochenen sterben wird, kniend, den Kopf mitten im Sessel und rein aus Gewohnheit von Zeitungs- und Schrott- und Flaschengebirgen umstellt.

Wie kannst du nur leben, wenn du nichts bei dir behältst?“

Das Füttern misslingt, was auch die Hände versuchen. Und so hockt einer viel später woanders im Finstern am Schutt und sehnt sich nach festeren Schatten im inneren Grau, damit sie ihm Fragen beantworten, solche, die aus Urgründen aufsteigen, ohne dass er sich wirklich erinnert, wann und woher und was das wohl war.

Nur Angst umtanzt ihn wie wabernde Schatten im Dunkel, Angst zum Beispiel, dass überhaupt keine Antwort mehr kommt von der Frau, heute womöglich schon nicht und morgen erst recht keine mehr.

Und was, wenn es nur dich gibt auf der Welt? Und du bist ganz alleine. Und da war sonst nie einer da. Und da wird auch sonst nie irgendwer sein.“

Da hat er auf den Stufen gesessen, mit der Flasche am Hals an den Bartstoppeln geschabt und auf den Buben gelauert, ihm gegenüber, den sich er zum Sortieren geholt hat und dazu, dass der ihm Bier bringt und womöglich auch noch sein Fragen versteht.

Das tut der aber nicht, schweigt nur, hört zu und nickt von Zeit zu Zeit beinah an der richtigen Stelle, derweil die Hände geschickt zerfledderte Zeitungen sortieren, nach Papier, nach Farbe und Format, denn in solchem Sortieren, da ist er gut.

Hin und wieder reicht er eine Schlagzeile zur Treppe hinüber, ist er im Lesen doch auch gut, kann Interessantes sogar erkennen, wenn es auf dem Kopf steht, und der Alte schabt seine Stoppeln und buchstabiert sich einen Sinn und kommt dann doch immer auf seine einzige Frage zurück, wie das wohl angeht, dass du lebst oder vielleicht womöglich auch nicht, denn genau sagen lässt sich so etwas nie.

Lebst du noch?“

Mitunter geht ihr der Atem so flach und so schwach, dass seine Hand nichts mehr spürt, wenn er sie knapp unter die Brust zwischen Bauch und Rippenende legt. Richtige Panik kommt jetzt zwar nicht mehr auf, doch zittert die Hand da sofort und lässt sich lange nicht wieder beruhigen.

Lebst du noch?“

Die Hand zittert und der Kopf, wenn er lauscht, mit dem linken Ohr unmittelbar vor ihren Lippen, minutenlang, bis es im Nacken krampft und er die Stirn auf ihre Brüste legen muss, ausgiebig zu verweilen, bis irgendwann wieder der Nacken den Kopf einigermaßen schmerzfrei trägt.

Lebst du noch?“

Im Grunde nutzt all das nichts, sollte man meinen, er hört sie ja nicht beim inneren Lärmen in seinem Kopf – und es war ja zunächst auch nichts als geschäftige Panik – aber dann spürt er doch einen schwachen Hauch von ihr am Ohr und langsam kehrt wieder Ruhe ein.

Das mit dem Hauch funktioniert allerdings nicht jedes Mal, nicht jedes Mal auf Anhieb jedenfalls, meist braucht es viele Anläufe, unterbrochen nur von lustvollem Erholen auf ihren Brüsten, und immer wieder neu das linke Ohr vor ihrem Mund, immer neu auch das Warten, dass ihre Brust sich unter ihm vielleicht deutlich bewegt.

Lebst du noch?“

Und dann, gut, da scheint es, sie lebt – ja doch, sie atmet noch. Er muss nichts weiter für sie tun. Jetzt zumindest nicht. Am Anfang aber, gestern womöglich war es, heute Morgen vielleicht erst, da schon.

Pure Panik war das, als er erstmals bewusst ihren Atem nicht spürte und sich sein Mund auf den ihren presste um ihr rhythmisch die Lungen aufzublasen. Ganz automatisch. Keine Erinnerung an womöglich irgendwann gelernte Überlebenshilfe. Dieser Körper macht so etwas aus sich heraus. Ganz von alleine.

Aber dann war ihm, als küsse er sie und als sei das für ihn verboten, gerade hier unten in der Einsamkeit, und er musste hinüber flüchten in seinen Korb, und es dauerte lange, bis er sich wieder beruhigen konnte vom inneren Sturm.

Lebst du noch?“

Wenn er sich aufrichtet, glimmt es dort drüben. Schwach. Immer schwächer wohl von Mal zu Mal. Aber es glimmt. Und doch kommt vor dem Zurückfallen die immer gleiche, ewige Frage.

Du lebst doch da drüben? Ja?“

Manchmal überkommt es den Alten. Dann muss er das Leben erklären. Der Welt und sich selbst und vor allem dem Buben da gegenüber, weil es sonst niemanden hier gibt, der auf ihn hört. Wichtig ist das. Irgendwer muss zuhören. Anders erfährt er seine Fragen nicht, nichts von alledem, wofür er Antworten braucht.

Nichts sagen jetzt. Einfach nur hören.
Einfach nur hier und jetzt sein.
Dabei sein. Da sein.
Einfach nur.

„Du lebst doch. Weißt du das?“

Der Hörer nickt. Ja, er weiß, er lebt. Und das zeigt er auch. Oder war das jetzt wieder falsch?

„Nichts weißt du! Wie willst du denn wissen, ob du da lebst?“

Der Hörer denkt sich sein Teil und reicht eine Schlagzeile hinüber, die sich zufällig findet.

Entziffern dauert. Eigener Sinn muss sich erst finden, ganz gleich, was auf dem Papier dort steht. In diesem Fall geht es um Kino, um Ankündigung irgendwann neu angelaufener Filme. Wie auch immer. Letztlich zählt nur, dass es passt.

„Was weißt denn du, ob du da drüben lebst. Oder hier. Oder dort. Wenn es dich überhaupt gibt, irgendwie.“

Der Hörer weiß nicht. Sitzt nur und wartet ab.

„Vielleicht ist ja alles nur Kino. Oder so ein Traum. Oder was?“

Der Hörer nickt. Kino kennt er kaum. Kino gibt es nur selten in jener Zeit dort auf dem Dorf. An Fernsehen gar ist überhaupt noch nicht zu denken.

„Oder Radio. Da schwätzt vielleicht einer bloß dumm rum von dir. Und wenn du genau hinguckst, ist nicht mal richtig jemand da. Jedenfalls niemand, wo da wirklich am Reden ist. Guck doch rein! Radio nur. Sonst nichts.“

Der Hörer träumt. Radio hätte er schon gerne. Ein eigenes Gerät auf einem eigenen Zimmer. Das soll es geben, hat er gehört. Das alte Vorkriegsmodell zu Hause auf dem Regal neben dem Sofa gibt hauptsächlich die Kulisse für den väterlichen Mittagsschlaf ab. Denn der schläft am besten, solange der Werbefunk läuft. Ist die Werbung vorbei, wacht er auf und schaltet ab. Und niemand darf ohne ausdrückliche Erlaubnis wieder einschalten.

Ein eigenes Zimmer. Ein eigenes Radio. Wenn man nur wüsste, wie …

„Nichts weißt du! Du träumst. Oder womöglich träumt da einer gerade von dir. Im Radio oder so. Irgendwo, wo es nichts Richtiges gibt. Aber wenn es gar nichts richtig gibt – woher willst du dann wissen, dass du lebst? So in Wirklichkeit und ganz in echt. Ob du das überhaupt merkst? Gibt es dich? Und wenn ja, wozu überhaupt? Radio! Das macht doch überhaupt keinen Sinn.“

Dem Hörer ist das gleich. Was er merkt: Es ist Zeit. Der halbe Nachmittag ist um. Jetzt will er ums Leben nur wieder fort von hier.

„Nichts ist egal! Auch wenn du davon gar nichts merkst. – Gib mir doch mal die Hand.“

Der Hörer steht auf und reicht die Hand. Das kennt er. So endet das immer. Das Schlimmste ist geschafft.

„Da, nimm! Das ist richtig. Das gibts. – Und reich mir noch ein Bier rüber.“

Ein Markstück. Meistens. Und dazu noch das Pfand für die leeren Flaschen im Hof. Für so viele, wie in ein Einkaufsnetz gehen. Das lohnt so einen halben Nachmittag schon.

Zeitalter ist das alles her.

Irgendwann kommt all dieses Fragen doch an sein Ende. Dann holt dich die Welt, ob es dich nun gibt oder nicht. Egal ob du in der eigenen Kotze verreckst oder nur langsam verlöschst. Ob du wie Kerzendocht verglimmst, eingeklemmt unter Geröll und einer heruntergebrochenen Decke. Und nur einer ist noch bei dir, und der weiß nicht einmal sicher, ob du noch lebst, und wie und, wenn überhaupt, wozu.

Lebst du noch?“

Ja, doch! Nein? Vielleicht. Vielleicht ist es vorbei.

Und?

Dann muss man sich wohl ganz alleine nach seinem Vorhandensein fragen. Wenn es mal klarer wird im Kopf und all die Angst einen durchs graue, innere Licht wie Schatten umwabert.

(Copyright ©Bernd Pol, 28.07.2004)

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4 Grablegung

Später, wie er aufschreckt aus unruhigem Schlaf, ist es finster. Zwar stieben vor den Augen Funkengewitter und inwendig flirrt und flimmert es, doch gibt es nirgends mehr so etwas wie Licht. Kein inneres Bild, wenn auch der Schädel dröhnt und im eigenen Flirren und Flimmern monsterhaft Gestalt annimmt. Richtig zum Bild aber wird das nicht und ihm ist, als würde da nie wieder ein richtiges Bild sein. Kein rotes Glühen mehr im Grau, kein Pfützenschwarz, und die Hände müssen ungesehen ihre Arbeit tun.

Es ist nur noch finster tief unten in ihm. Da sieht nichts mehr. Da denkt nichts mehr. Das existiert nur noch, hilflos, ausgeliefert, zerquält.

Alleine. Bloße Kreatur.

Man sagt, wer zur Hölle gehe, stürbe im Lärm. Nur Erwählte gingen durchs Licht, sagt man.

Licht? Da ist kein Licht! Nie ist da Licht gewesen.

Da erstickt einer in Finsternis, ersäuft in Höllenlärm, zerquetscht, zerreißt im Dauerkrampf. Es geht zu Ende. Man kann die Flammen schon spüren.

Das zuckt ihn durch, das züngelt, das flackert, auch ohne Bild. Das kreischt, das schreit nur noch, und die Hände, diese Hände, die …

Diese Hände, die, die schreien alles das mit.

Sie schreien, die Hände, sie tanzen. Sie flattern, sie schlagen, hauen mit Fäusten den Lärm durch den Kopf und erreichen bei all dem den Urgrund nicht mehr. Das heult und das dröhnt, das brüllt durch die Luft. Da tanzen die Finger, da flattern die Arme, da reißt es die Schultern ans Weiden­geflecht.

Da tanzt, da schreit sich einer vom Weidenkorb heraus aus der Welt.

Tanz, Vogel, tanz! Wenn kümmerts, ob du noch lebst, wenn du lebst, wie du lebst, wie du so ohne Leiden zerstirbst.

Denn selbst zum Leiden ist all das zu viel.

Das denkt nicht mehr, das fühlt nicht mehr. Das spürt, das ist nur noch.

Das hört. Das tanzt.

In eins verschmelzen da Lärm und Lust. Ein Rausch liegt über dem Sterben. Wer kümmert sich jetzt noch um Schmerz? Der Teufel hat eine Geige, mit der spielt er dir auf.

Links herum! Rechts herum! Tanz, Vogel, tanz!

Alles immer noch besser, als kniend in Kotze still zu verrecken. Nein! Heute erstickst du nicht. Heut sollst du dich im Tanzen zerreißen.

Hör die Musik! Der Teufel fiedelt dir Hölle ins Ohr. Tanz!

Erst wenn du ganz Schrei bist, ganz Tanz, ganz Gedröhn, ist es gelungen.

Ein unsichtbarer Berg in der Ferne, da tanzt es ihn rauf. Kopf, Knie, Hände schlägt es ihm an Schuttfelsen wund, wen kümmerts? Tanz! Und wen immer du findest, lad dir zum Mittanzen ein.

Es findet sich eine. Doch die tanzt nicht mit ihm mit. Liegt nur still glühend da und weigert sich.

Das geht nicht! Tanz! Tanz mit!
Sieh doch, ich helfe dir auf!

Und die Hände tanzen die Steinberge durch, reißen vorne, hinten, und was immer auch nachgibt, fliegt im Paukengedonner weit fort.

Schneller! Lauter! Es reicht zum Losmachen nicht. Er ist schon wieder runter vom Berg. In ihm, um ihn schreit die Welt und besteht nur noch aus wahnsinnig flirrenden Kreisen.

Dann, im wildesten Kreiseltanz, fällt ihn ein Felsbrocken mitten auf seinem Weg. Ein heftiges Aufblitzen noch, ein letztes, alles übertönendes, inneres Krachen. Ein letzter, lungenzerfetzender Schrei. Alle Welten, was immer auch war, stürzt jetzt über ihn ein …

Und dann ist alles mit einem Mal vorbei.

Wirklich?

Ist es jetzt wirklich vorbei? Hat ihn die Stille zu Boden gehauen? War das dieser eine, der letzte, existenzielle, überwältigende Schlag, der alles beendet?

Ist das jetzt schon Tod?

Er ist nass, dieser Tod.

Von oben tropft es auf die Stirn, läuft durch die Augenhöhlen am Ohrloch vorbei bis unters Genick.

Doch der Schädel ist leer. Ihn kümmert das nicht.

Soll es doch tropfen …
Tropfen …
Immer nur tropfen …

Ein lebendiger Mensch hält das auf Dauer nicht aus.

Er schlägt die Augen im Tropfenfluss auf und eine Welt kehrt zu ihm zurück. Finster ist sie, die neue Welt. Kein Glimmen, kein Glühen gibt es, kein grauschwarzes Licht. Nur die Hände sehen hier noch, aber auf völlig eigene Art.

Und der Schmerz wird wieder wahr. Auch auf seine ganz eigene Art.

Sie tut weh, diese wirklich gewordene Welt.

Und sie ist ekelhaft.

Es dauert, bis er sich zu rühren vermag, bis es gelingt, sich aus der Pfütze zur Seite zu rollen.

Dann liegt er, schwer atmend, und die Hände pressen das Herz in die Rippen zurück, dass es nicht fortfliegt, nicht jetzt noch zum Schluss, auch wenn es, wie ein erschreckter Vogel aufflatternd, wild um sich schlägt.

Er liegt ganz still.
Er atmet.
Er lauscht.
Lauscht auf das stete Tropfen bei seinem Ohr.

Und ganz sachte schläft er von alledem weg.

Dann ist es das Erste, was wirklich wird, wie er erwacht. Weit vor dem Schmerz lebt schon das Tropfen. Ganz gleichmäßig: Pling, Plitsch, Plitsch. Das genießt er, lange rührt er sich nicht, lässt jeden Tropfen verklingen. Bis es auf einmal zur Erkenntnis gerinnt: Das Lärmen ist fort! Er kann dem Wasser beim Tropfen zuhören!

Im selben Moment sind auch die Schmerzen zurück. Es reißt ihn, zwängt ihn, krampft, dass er aufschreit und stöhnt.

Und doch – er lächelt.

Waren denn nicht diese Schreie, dieses Stöhnen ganz deutlich zu hören?

Ach! Es tut gut, wieder richtig am Leben zu sein.

Nun gut. Also, er lebt.
Aber Erinnern fällt schwer.
Als erstes, Bedeutung:
Das Wasser … Das Rinnen … Zum bloßen Tropfen ist es geworden …

Wie soll er denn leben, wenn ihm das Wasser versiegt?

Noch vor aller Panik aber kommt ins Erinnern ein Schlafkorb zurück und gibt ihm zu tun. Das hilft, wenn auch eine Ewigkeit vergeht, bis er ihn zu ertasten vermag, bis er im Mantel liegt, die Knöpfe über sich schließt und als einziges hofft, dass er möglichst bald trocknen wird und dieses Bett ihn wieder wärmt.

Dann liegt er und döst und als drittes wird ihm endlich gewiss: Jetzt sieht er wirklich nichts mehr. Weit im Gedächtnis liegt noch ganz schwach ein Glühen über dem Schutt. Doch das war zu einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Es ist am Verschwinden und es hat nichts mehr mit ihm zu tun. Und so schläft er zum nächsten Mal ein.

Etwas ist anders geworden.

Er hat nicht geträumt und die Hände haben auch Ruhe gegeben. Er erwacht wie er einschlief, fest in den Mantel geknöpft, die Arme auf der Brust überkreuzt. Er erwacht, weil ihr Gewicht ihm den Atem benimmt und er, noch im Halbschlaf gelähmt, unfähig ist, diese vom Brustkorb herunterzuheben. Aber dann wird er doch richtig wach, bevor er im Albtraum versinkt, und obwohl es ihn Mühe kostet, das Gefühl, zu ersticken, herunterzukämpfen, lässt er die Arme doch liegen, denn mit dem ersten Erwachen ist auch das Glühen im Schutt wieder da.

Doch nun ist es anders, kein sichtbares, inneres Bild mehr. Allein im Gedächtnis hat es sich ganz weit nach vorne geschoben, zu neuer, reiner, eigenständiger Gestalt. Und so sinnt er, endlich tief und ruhig atmend, für eine weitere Ewigkeit dem Bedeuten solchen Glühens hinterher.

Irgendwann aber ist klar, Nachsinnen alleine führt hier zu nichts. Da hat er im Gedächtnis auch den Schutthaufen wiedergefunden und dass es dort anscheinend etwas Wichtiges gibt. Er weiß nicht, was, und die Unruhe darüber wächst in ihm an. So treibt es ihn doch aus der Wärme des Schlafkorbs heraus und hinüber auf den Schutt, dem nachzuspüren, was da wohl ist und warum.

Das Gehen ist schwierig geworden. Wenn auch der Körper sich im Großen und Ganzen erinnert, so schlägt er sich doch die Knöchel wund beim Stolpern über herumliegende Brocken und die Stirn holt sich an der heruntergebrochenen Decke noch eine weitere Beule. Dennoch, er findet seinen Weg auf den Haufen hinauf und oben, nach längerem Tasten, zuletzt sogar den Körper der Frau.

Soweit gekommen ist jedoch erst einmal Schluss. Er kann die Frau nicht begreifen. Nur, dass da etwas anders ist und womöglich wichtig. Irgendein Was und Warum aber erschließt sich ihm nicht. Er ist vollständig alleine. Anderes, andere gibt es nicht mehr. Nicht um ihn, nicht in ihm. Nicht einmal die Erinnerung bringt auch nur eine Ahnung von Menschen hervor. Nur von fern, im Gefühl, hinter all diesem dumpfen Brüten steigt etwas wie Verzweiflung auf. Da war etwas, das war lebenswichtig und das ist unbegreiflich und unbegriffen verlorengegangen.

Er hockt im Schutt, schräg von ihr, eine Hand absichtslos auf ihrer Brust, und brütet Sehnsucht, von der er nichts weiß. Unbestimmt wächst irgendein Sehnen und breitet sich aus und nachdem er Stunden später aus Instinkt in einer Kuhle weitab von den Wasserpfützen pinkeln gegangen war, erträgt er es nicht weiter.

Es genügt, sich im Finstern den Zeh an einem Schuttbrocken zu stoßen und alles ungeformte Sehnen schlägt um in bloße, existenzielle Wut. Der Stein fliegt mit Schmackes den Haufen hinauf und einer weiterer dazu, weil er sich zufällig nebendran findet. Dann wie im Rausch noch ein einer und noch einer und schließlich irrt einer schimpfend und tobend kreuz und quer durch den Raum und alles, worüber er stolpert, fliegt traumwandlerisch sicher den Schutthaufen hinauf.

Viel, sehr viel später liegt er im Korb, schlägt die Augen vom Erschöpfungsschlaf auf, weiß nichts mehr von Steinen, hat aber geträumt, verworrene, frühzeitliche Bestattungsrituale, und über bereits wieder verwehenden Grabhügeln ist schließlich die Frau wieder da, und die Gewissheit, dass sie vor Zeiten drüben unter dem Hügel beigesetzt worden war.

Das, immerhin das, weiß er ganz sicher. Und dieser eine, sicher gewusste Halt macht ihn im Inneren ruhig und beinahe glücklich räkelt er sich zurecht im Korb, findet die Mantelknöpfe und weiß ihren Zweck, und dann liegt er da, die Arme baumeln über die Korbkante und die Hände halten ohne weiteres Zutun ganz still, und eine fremd gewordene Welt strömt ruhig auf ihre eigene Weise durch ihn hindurch.

Dann, irgendwann, fällt ihm auf, dass es nicht mehr so ekelhaft süß riecht wie früher irgendwann. Durchatmen lässt sich, dumpf zwar und stickig, doch das stört ihn kaum.

Frei atmen, ja, und kein fremder Tod dringt ein, nichts schiebt sich vor zum Erbrechen, nichts kriecht in Krämpfe und Schmerzen, nichts dieser Art füllt ihn bis in den letzten Winkel hinein aus …

Endlich!
Zumindest hier – er braucht sich sich nicht weiter zu wehren.

(Copyright ©Bernd Pol, 09.10.2004)

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5 Gewittersturm

Drüben über dem Fluss schaukeln die Bäume im Hang. Man muss nur einen Stuhl unter das kleine, hohe Dachfenster im Bad stellen, dann sind sie da, vereinzelte Stämme zwischen Nachbarhaus und Apfelbaum, Kiefernkronen und Felsbrocken im Kahlschlag weit drüben über dem Fluss. Winzig von hier aus, aber wenn man scharf hinschaut, kann man zwischen den Felsen die Bäume schaukeln sehen, dann zumindest, wenn der Wind auffrischt und eine schwarze Gewitterwand das Tal herunterkommt.

Diese Felsen. Um sein zehntes Jahr hatte er sie sich als verzauberte Häuser gedacht und immer wieder aufs Neue auszuforschen versucht, in den Sommerferien vor allem, wenn auch der Weg zu ihnen mühsam war, erst steil den Berg ins Tal hinunter, dann mit Angstkitzeln im Bauch über den Notsteg, weil der mitten über dem Fluss gefährlich ins Schwingen geriet, und schließlich ein gutes Stück Hang schräg quer durch den Wald zwischen Unterholz und Bäumen hinauf, bis sich unvermittelt über einem der Kahlschlag öffnete, steil und nackt, nur ganz oben auf der Kuppe gab es dann wieder anderen Wald.

Der aber gehörte schon nicht mehr zu ihm. Ihm waren die vereinzelten Kiefern im Schlag und die Felsen, manche groß wie ein Haus und, nachdem die Sonne sie einen Hochsommertag lang unerbittlich durchglüht hatte, oft unangenehm heiß, wenn man unversehens mit der Hand auf sie kam.

Pralle Sonne war nicht sein Fall. Ihre Hitze vertrug er nicht gut, darum trieb es ihn an solchen Tagen lange durch den Wald, bis er sich am späten Nachmittag erst in den Schlag traute, dann, wenn der Hang endlich in Schatten fiel oder über der Kuppe weiter oben im Tal Wolkentürme ausgequollen waren und sich in diesigen Schleier unter die Sonne gelegt hatten.

Viel Zeit blieb da nicht mehr. Eine Stunde nur, höchstens zwei, in denen er Ritzen mit Taschenmesser und Zweigen durchstochernd von Felsen zu Felsen kletterte, denn irgendwann, irgendwo musste ein verborgener Mechanismus zum Öffnen verzauberter Türen doch auffindbar sein.

Dass dies in diesen zwei, drei Jahre nicht glücken wollte, schob er vor allem auf irgendeinen nach wie vor wirksamen Zauber. Denn, da war er ganz sicher, genau dann, wenn er dem richtigen Spalt auf Handbreite nah war, zwangen ihn immer von neuem gewichtige Gründe, auf der Stelle die Arbeit zu unterbrechen. Immer wieder. Und wenn es nur das war, dass in dem niedrigen Kirchturm über dem Tal die Vesperglocke zu läuten begann. Dann musste man sich sputen, denn bei normalem Tempo zog sich der Weg bis nach Hause eine geschlagene Stunde.

Oder die Wolkentürme weiter oben im Tal hatten das Donnern erlernt. Das erforderte sofortigen Aufbruch, unvorbereitet zumeist, denn in der Regel sah man vom Hang aus diese Wolken nicht wachsen. Das Tal schlug einen engen Bogen um eine weit vorgeschobene Kuppe und da der Hang sich noch ein gutes Stück steil hinaufzog, hielt er derart wichtige Zeichen vor einem verborgen. Man war aufs Hören verwiesen und wenn das erste Donnergrollen kam, blieb nicht mehr viel Zeit. Da musste man quer durch Hang und Wald zum Talgrund rennen und stolpern, auf dem Steg tunlichst nicht langsamer werden, auch wenn der im auffrischenden Wind noch wilder als sonst schaukelte, und dann Steilweg um Steilweg hinaufhasten, bis man völlig außer Atem bei etwas Glück gerade mit den ersten schweren Tropfen die Haustür erreichte.

Sollte aber das warnende Grummeln einmal ausbleiben, so war es der Wind, wenn er unvermittelt in die Baumkronen fasste, der einen forttrieb. Und das ganz sicher immer dann, wenn der alles entscheidende Türöffnungsmechanismus zum Greifen nahe war. Denn fingen die Bäume erst einmal zu tanzen an, blieb noch weniger Zeit und wenn man da endlich mit den Fäusten an der Haustür die Donnerschläge übertönte, war man womöglich klatschnass, in jedem Fall aber atemlos, unfähig noch jemanden zum Öffnen zu rufen.

Noch aber schaukeln die Bäume drüben nur wenig, gerade eben bemerkbar von hier vom Badfenster aus. Das Tagesgewitter weiter oben im Tal hält sich an seinen Hängen noch fest. Aber die Wolken kann man von dieser Seite sich schon übertürmen sehen. Das dicke Ende kommt noch. Nur Geduld, Gewitter hat es im Sommer hier jeglichen Tag. Die Bäume drüben am Hang jedenfalls schaukeln und tanzen durchaus schon heftig.

Das dringt in die Träume. Gewitter kommt droben vom Tal. Näher zieht es und näher und dann ist da nur noch Donner, Schlag hinter Schlag. Die Bäume tanzen über den Hang und die Felsenhäuser sind ins Rutschen, in donnerndes Traumrollen geraten.

Man spürt sie schon kommen.

Schau doch! Der Boden hier bebt.

Da schreckt es ihn auf. Ein Augenblick nur bleibt ihm, benommen im Korb, dann bricht Donnern und Rutschen durchs Finstre über ihn ein. Felsen sind das, Schutt, Mauern – Maschinenlärm ganz in der Nähe. Und er begreift ihn nicht. Maschinen gehören längst nicht mehr zu seiner Welt.

Das ist ihm die wirkliche Welt: ein ins Leben gerissener Hang, Felsenkäfige, aufgesprengt im Donnergebrüll, von alten Solitärkiefern mit Sturmpeitschen wild und wilder umtanzt. Riesen sind da. Erzgefährliche Tiere. Monster womöglich. Und unter all ihnen stöhnt, von Urgewalten geschüttelt, der lebendig gewordene Hang.

Spürst du es nicht? Der Berg bricht herab und öffnet die Erde. Hör doch, sie schreit! Die Welt geht unwiderrufbar endgültig unter.

Dann, mitten im Grauen, ein winziger Funken Erkenntnis: Wahrscheinlich ist all das doch nur wieder ein verspätetes Beben.

Verspätet? Wieder? Nur ein verspätetes Beben?

Da ist aller Zweifel auch schon wieder vorbei. Was ist das, ein Beben? Er versteht all das nicht. Das eine lebt nur: Irgendwo da draußen geschieht ihm etwas.

Und dieses Etwas macht entsetzliche Angst.

Da verkriecht sich einer tiefer im Korb, presst Mantelärmel in die Ohren, bis der Kopf davon dröhnt und schmerzt und wünscht, das Dröhnen käme wieder von innen, fülle ihn aus bis in den hintersten Winkel, und kein Etwas-wie-auch-immer von draußen dränge je zu ihm ein.

Angst!
Angst …
Bloße, animalische Angst.

Nein, keine Angst. Wenn auch die Bäume gefährlich sich im ersten Sturm biegen, diese Sorte von Böen gibt es nur über dem Fluss. Auf seiner Seite vom Tal, das kleine hölzerne Haus liegt viel besser geschützt. Da lässt sich leicht zum Hang rüberträumen. Denn jetzt ist es dort endlich soweit. Jetzt öffnen sich Türen im Fels und Bäume müssen sich neigen. Da, im Gewitter, liegt der Zauber. Ohne Gewitter geht es nun einmal nicht. Je lauter, je länger, je besser.

Wenn man nur einmal lange genug dort aushalten könnte. Einmal nur die Türen offen sehen. Einmal ein Felsenhaus betreten. Einmal, einmal nur die sehen können, die dort wohnen. Einmal nur. Wenn es nur auszuhalten wäre.

Es ist aber nicht auszuhalten.

Da schafft sich einer immer tiefer hinunter in seinen Korb, wühlt nadelloses Reisig über sich, Fetzen von modrig gewordenem Lumpenstoff. Ein Wintermantel rutscht über den Rand bis tief in den Spalt zwischen Mauer und Weidengeflecht und tarnt sich im Staub. Und dann, wie alles mit einem Mal still wird, ist für den Fall eines Falles niemand und nichts mehr zu sehen.

Es ist nur ein Augenblick, den passt er ab. Jene Sekunde, wo der Sturm innehält und die Luft zwischen Badfenster und Hang für einen Wimpernschlag klar wird, fast wie Kristall. Für einen letzten Moment holt die Welt Atem.

Sie hatten sich nie wirklich gefürchtet. Vor dem eigentlichen Gewitter zumindest nicht. Man saß im Wohnzimmer, aß, spielte, las oder erzählte sich Familiengeschichten. Fernsehen war da noch unerschwinglich und blieb es über fast ein Jahrzehnt, und im Radio gingen Sprache und Ton in Unwetterkrachern verloren. Es lohnte sich nicht. Man konnte nur abwarten, miteinander versuchen, die Zeit zu vertreiben und zu ignorieren, dass neben der Tür all die Jahre bei Gewitter ein großer, gepackter Pappkoffer stand.

Nein, es war keine Angst. Nicht vor einem Gewitter als solchem. Reine Vorsicht nur für den Fall, dass der Blitz vielleicht einschlug und die Holzwände in Brand setzte oder der Sturm womöglich die alt gewordene Fichte draußen auf das Hausdach heruntergerissen hätte.

Doch all das sollte nie eintreten. Der Fichte stand noch fast ein Jahrzehnt. Dann wurde sie ohne Hast von der Spitze her in mehreren Stücken gefällt, und das Holzhaus war niedergerissen, beide Stockwerke, bis auf das Kellergeschoss, auf das man noch etwas später einen Bungalow pfropfte, einen protzigen Fremdkörper im Viertel, der im folgenden alle paar Jahre immer neue Bewohner verschlang.

Aber das war weit nach seiner Zeit. Da zählten die Gewitter drüben am neu aufgeforsteten Hang längst nicht mehr und Felsenbaumriesen bevölkerten über die Jahre verstreut nur noch gelegentlich heftige Alpträume.

Was ist schlimmer? Der jeweilige Alp? Oder die Ewigkeiten in den Pausen dazwischen?

Einen Augenblick lang ist es draußen ganz still. Da hält einer mitten im Reisig und Lumpengewühl den Atem zurück und bemüht sich, sein Zittern zu dämpfen. Nur nicht auffallen jetzt. Damit die draußen ihn nicht zuallerletzt womöglich doch noch erwischen.

Warum und von wem, das weiß er nicht. Nur, dass er nicht erwischt werden darf. Von Monstern nicht und nicht von Menschen, Menschenmonstern. Was, ist ihm gleich. Er kennt keine Schuld, worin sie auch immer bestünde. Es ist nur die Angst, einfache, ungeformte animalische Angst, die ihn sich einwühlen ließ wie ein Tier und ihn jetzt wie ein solches sich totstellen heißt.

So hört er nur, wie irgendwo draußen neben der Tür ein Stein aus der Wand poltert und irgendwer Unverständliches durch das Loch zu ihm hereinbrüllt. Das Licht sieht er nicht, jenen grellen Strahl, der erst den Schutthaufen erfasst und sich dann in Wellen herübertastet in die Ecke zum Korb. Erst als der erfaßt wird, gibt es für Sekundenbruchteile eine grellweiße Explosion, die ihn fast hätte aufschreien, in wilder Flucht auf- und davonjagen lassen. Doch das Licht tanzt weiter. Sie bemerken ihn nicht.

Dann gibt es ein Schleifen irgendwo vor der Tür. Und noch später, als die Maschinen neue Ewigkeiten durchbrüllen, gehen sie ihn längst nichts weiter an. Zuviel Erschöpfung, zuviel abgefallener Stress – da ist für ihn nur noch halb ohnmächtiger, traumloser Schlaf, weitab von aller Welt.

So spürt er das neue Beben auch nicht, verursacht vom abrückenden Räumgerät draußen. Und auch nichts davon, wie über der Schutthalde drüben die Decke noch weiter herabbricht. Aber er wird sich wundern, wenn er aufwacht, wie er nur derart tief unten aufs Korbgeflecht zu liegen kam und wer oder was wohl all das Reisiggestrüpp über ihn aufgehäuft hat.

Doch da ist dann wieder ein ganz anderer Tag.

Draußen bricht endlich Regen herab. Eine Wasserwand schiebt sich zwischen Fenster und Hang. Das eigentlich Wichtige ist da vorbei. Man sieht die Naturgewalt nicht mehr. Jetzt bleibt nur noch Warten darauf, dass der Gewitterlärm aufhört. Irgendwann bald hoffentlich. Vermutlich aber erst weit in der Nacht.

(Copyright ©Bernd Pol, 06.11.2005)
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6 Lichtaugenlicht

Den Autokran hatte man extra fürs Fernsehen vom anderen Ende der Stadt herüber geschafft. Es fehlte überall an schwerem Räumgerät. Man hätte sich die Mühe sparen und auch woanders filmen können. Doch im Innenministerium hatte man auf diesem Ort bestanden.

Immerhin wurde das Möglichste getan, die Szene wirksam zu gestalten. Der Kran hievte einen losen Träger schräg aus dem Schutt, was dem Auftritt des Ministeriumssprechers einen dramatischen Touch gab. Die internationale Pressemeute brüllte rum und dirigierte ihn hin und her, bis jeder sein spannendes Bild im Kasten hatte. Dann hämmerte ein Trupp von Arbeitern in malerisch verschmutzten Arbeitskleidern ein paar letzte Keile in das vorbereitete Stützwerk. Die Meute folgte mit Handscheinwerfern und leichten Kameras durch den abgestützten Gang in einen niedrigen Vorraum um aufzunehmen, wie der Sprecher des Innenministers mit einem Vorschlaghammer neben einer schief gedrückten Eisentür einen eigens dafür ausgesuchten Stein aus der Wand schlug. Eine spezielle Kamera mit Suchscheinwerfer wurde durch das Loch praktiziert, deren Bild im Vorraum von einem Monitor abgefilmt werden konnte. Arbeiter hämmerten gegen die Tür. Es hallte leider kaum, was aber der Wirkung keinen Abbruch tat. Dann rief der Ministeriumssprecher in einheimischem Dialekt durch ein Megafon in das Loch hinein. Der Suchscheinwerfer schwenkte von rechts nach links erst über eine Schutthalde, dann über eine Wasserlache, die interessante Spiegelungen an die schräg herabgebrochene Decke warf, und verweilte schließlich an der gegenüberliegenden Wand einige Zeit auf einem riesigen, staubbedeckten Wäschekorb aus Weidengeflecht. Irgendjemand stellte fest, dass man Sir John Falstaff hätte darin verbergen können, um ihn anschließend in die Themse zu werfen. Ein begeistert belächelter Einfall, der später in fast alle Nachrichtensendungen übernommen wurde.

Die Journaille war‘s zufrieden. Jeder hatte seine Bilder bekommen, wobei sich später in den Nachrichten die Tatsache besonders gut machte, dass der Sprecher des Innenministers in seinem einheimischen Dialekt besonders laut und unverständlich gerufen hatte, während der Korb im Bild war. Dessen scheinbares, leichtes Rütteln, vermutlich verursacht durch gezieltes Spiel mit Licht und Schatten im Suchscheinwerferkegel, verstärkte den Effekt noch.

Draußen gab der Sprecher vor dem Trümmerhaufen noch ein paar kurze Statements ab, dieweil der Kran den Träger effektvoll auf den Schutt zurückfallen ließ. Dann zog man das Gerät wieder ab und Ruhe kehrte ein.

Verwirrende Stille. Kein Tannenzweig knistert, wie sich einer vom Korbboden hocharbeitet. Kein Knarren im Weidengeflecht beim Versuch, aus dem Korb herauszukommen.

Mühsam ist alles. Auf dem Bauch muss er sich über den Korbrand wälzen, anders geht es nicht. Dann kniet er atemlos im Dreck, hält sich mit der Rechten am Weidengeflecht fest, schaut sich um.

Genauer, er versucht sich umzuschauen. Aber alles ist absolut finster geworden. Nicht einmal innere Bilder gibt es mehr. Nichts sichtbar. Nichts hörbar. Einfach nur Leere um ihn herum. Und Leere tief in ihm drin. Nicht einmal trostlos. Er spürt nichts mehr. Kniet nur, atmet tief, und die Augen starren von alleine in Leere hinaus.

Verwirrende Leere immerhin. Unruhe. Irgendetwas stimmt hier nicht.

„Und?“

„Nichts, Herr Minister. Wir haben alles abgesucht. Das Loch ist leer.“

Der Innenminister kritzelt Strichmännchen auf einen Aktendeckel. Er mag halbe Sachen nicht. Nichts, was unnötig Unruhe schafft.

„Aber sie müssen noch dort sein. Tage hat man alles überwacht. Da kommt keiner ungesehen raus. Und die Tür war abgesperrt. Sie sind da drin. Es gibt keinen anderen Ausgang.“

„Nicht da im Keller“, betont der Referent. „Ich habe mich persönlich überzeugt. Da gibt es keinen mehr.“

„Und?“ Die Strichmännchen bekommen Speere und Heiligenscheine. „Andere Möglichkeiten? Verschüttet? Versteckt vielleicht?“

„Verstecken wäre schwierig. Der Raum gibt das nicht her.“ Der Referent sinnt betont angestrengt nach. „Aber verschüttet wäre durchaus möglich. Es sieht so aus, als wäre die eine Wand eingestürzt. Und die Decke ist ein Stück heruntergebrochen. Nur regt sich nichts mehr unter dem Schutt. Die Sensoren geben nichts her. Man hätte das merken müssen.“

Die Strichmännchen werden totgekritzelt. Währenddessen arbeitet es im Minister. Sein Gefühl weigert sich, das als Tatsache anzusehen. Da stimmt etwas nicht. Dafür hat er einen Riecher. Auf den kann er sich verlassen.

Die Ministerrechte kritzelt Strichmännchenleichen zu. Die Linke drückt einen Fernbedienungsknopf. Eine Tür fährt in der Schrankwand auf. Ein Fernseher geht an. Nachrichten, Ruinenbesichtigung, Aufzeichnung: „Sir John Falstaff hätte man darin verbergen können …“

„Und, Wesler? Was ist mit dem Korb?“

Der Referent schweigt. Das hat er übersehen. Es war so unruhig gewesen in der Journalistenmeute. Man hatte den Falstaff-Einfall belacht. Er hatte sich ablenken lassen. So etwas gibt man aber nicht zu.

„Unwahrscheinlich, Herr Minister. Die Sensoren ...“

„Die Sensoren!“ Eine Ministerhand klatscht auf die Strichmännchenleichen. „Bleibt mir doch mit dem Kram vom Leibe. Haben Sie sich überzeugt? Den Korb genauer angesehen?“

Der Minister dirigiert die Aufzeichnung zurück. Man sieht den Korb ein wenig schwanken.

„Und das da?“

„Nichts, Herr Minister. Licht- und Schatteneffekte. Leben hätte sich zeigen müssen. Es ist alles genau analysiert worden. Ich ...“

„Ja?“

Der Referent schweigt. Er fühlt sich in die Ecke getrieben. Ja, den Korb hat er übersehen.

„Seid ihr wirklich sicher?“

„Nun ...“

„Eben!“ Der Minister reicht die Strichmänchenakte über den Tisch. „Ich will das selber klären. Heute abend. Und ohne Aufsehen, ja?“

Es ist eine persönliche Angelegenheit. Aber das braucht nun wieder niemand so genau zu wissen.

Wenn da einer nur nur wüsste. Ein Auge schwebt mitten im Finstern. Nicht viel, ganz schwaches Grau, aber – was nur?

Licht!

Ein Wort taucht aus irgendwelchen Urgründen auf. Nicht sehr viel mehr als ein Wort. Und weiter, unabwendbar, Unruhe, Beunruhigung. Da spürt einer, ohne zu wissen, tief im gesamten Leib, Gefahr.

Licht!

Das ist eine ganz eigene Sorte von Gefahr. Das ruft. Das lockt. Das will erfahren sein.

Ein Lichtauge. Etwas, was im Finstern zu Fallen führt.

Solch ein Auge will erkundet sein. Mit äußerster Vorsicht, gewiss. Noch funktionieren die Instinkte. So schleicht er sich an wie ein Tier. Prüft wie Katzen jeden Schritt, angespannt, jeden Augenblick zur Flucht bereit. Zwei, drei Schritte bis zur Tür. Er stolpert nicht. Jeden Schuttbrocken fühlen die Beine voraus. Er prallt nicht gegen Wände. Die Handflächen, vorgestreckt, erspüren jedes Hindernis zurzeit, noch bevor die Beine sich bewegen. Nein, er prallt auch nicht gegen diese Tür. Doch wie er dort steht, direkt neben dem Auge, und die Hände streichen über eingebeulten Stahl, da kommt ein wenig Erinnerung zurück, gerade genug um zu verstehen, dass es hier einen Weg gab, ein Schlüssel zu allem. Genug, sich einen Augenblick zu wundern, was das wohl alles soll.

Dann hockt er runter auf die Schwelle und wartet und döst.

Ein Auge schwebt im Finstern. Ein schmaler, senkrecht stehender Spalt nur von hier. Ein Katzenpupille aus schwachem Grau, jederzeit zum Angriff bereit. Jeden Augenblick.

Erinnerungen wie Träume. Zwei Männer umkreisen einander, gebückt. Messer, die in Händen spielen. Die Köpfe vorgereckt und Augen schmal wie Schlitze. Katzengleich. Jeden Augenblick zum Angriff bereit.

Tische, Stühle obenauf, sind ins Rund gestellt. Und einer steht dort zwischen zwei Tischen und starrt und wagt sich nicht zu rühren. Hält sich mit der Rechten an einem Stuhlbein fest und spürt, wie sich Muskeln in ihm spannen, mehr und mehr, je hektischer der Tanz wird in der improvisierten Arena dort.

Dann ein Ruck. Einer wirft. Einer springt, verfehlt und bricht schräg hinter seinem Gegner zusammen. Doch noch bevor der sich herumgerissen hat, ist da ein Schrei, ein Stuhl fliegt durch die Luft, trifft jenen zwischen Kopf und Schulter seitlich mit der Sitzkante am Hals. Dann liegen zwei am Boden, blutend auf einem Teppichstreifen der eine, und der andere halb betäubt knapp davor auf dem blanken Bretterboden.

Das Weitere geht ganz schnell. Zwei schleifen den Verletzten auf dem Teppichstück hinaus und wie einer die Tür zuwirft und verriegelt, kriegt er noch mit, wie es da drinnen drohend stöhnt: „Feiglinge, alle! Wartet‘s bloß ab. Ich krieg euch noch.“ Und es ist nicht klar, gilts dem mit dem Messer oder dem mit dem Stuhl oder allen beiden zugleich.

Ich krieg euch noch! Das Auge blinkt Gefahr.

Da hat es einen aufgeschreckt aus seinem Zwischenreich zwischen Dösen und Traum. Es stimmt, das Auge blinkt. Unregelmäßig. Drohend. Warnend. Und alles Gespür im Körper meldet, draußen, hinter dieser Tür, da droht Gefahr.

Was tun? Es ist zu spät fürs Korbversteck. Rein aus dem Gefühl – die Strecke durchs Dunkel ist nicht mehr zu schaffen. Also dreht es einen um auf seiner Schwelle, rollt sich einer da ein wie ein Igel, mit dem Rücken zum Auge, drückt sich so klein wie irgend möglich in die Ecke aus Stahlrahmen und Tür.

Gefahr! Das Auge blinkt. Man kann‘s im Rücken spüren. Heller. Drängender. Immer näher. Immer mehr.

Eng ist es hier und die Stützbalken hängen viel zu tief im Schutt. Der Minister flucht, als er zum wiederholten Mal gegen ein Hindernis anrennt. Er erkennt nicht viel vom Weg.

„Wesler, zum Teufel!“

„Ja?“

Der Referent, mit der Suchlampe drei Schritte vorweg, hält kaum inne. Gleißend grell ist das Licht voraus und Schatten tanzen mit scharfen Kanten um den Gang. Dafür sieht man hinter dem Lichtkegel fast gar nichts mehr. Selbst wenn der Boden für die Journaille eingeebnet worden war, er gibt noch einiges an Stolpermöglichkeiten her.

„So machen Sie doch langsam! Man ruiniert sich ja das ganze Zeug.“

„Aber ja doch. Selbstverständlich, Herr Minister.“

Doch er hält kaum ein, der Referent. Erstens einmal kennt er diesen Weg. Zum andern aber ist ihm ganz und gar nicht wohl zumut. Es knackt und knirscht im Stützausbau. Im Schuttberg arbeitet es gefährlich, jetzt wo der Frost durch seine Ritzen kriecht. Und der Minister hat eine Waffe dabei. Die spürt er gar zu deutlich, zwei, drei Schritte hinter sich im Kreuz.

Hoffentlich hat die Sache bald ein End. Eigentlich will er nur so schell wie möglich wieder raus von hier.

„Da vorne ist es, Herr Minister.“

Der Lichtkegel hebt ein gutes Stück voraus eine verbeulte Stahltür aus der Wand.

„Ja, ich seh‘s. Was ist das denn hier für ein Riesenraum? Zeigen Sie doch mal.“

Das Licht schwenkt Betonwände und -säulen ab. Die Reste einer Tiefgarage. Rechts am Rand sieht man Autotrümmer unterm Schutt. Die hat man extra für die Kameras zurechtgemacht. Ein Tisch steht vergessen mitten im Raum. Der hatte einen halben Tag zuvor den Monitor getragen. Jetzt legt der Minister eine eigenartige Waffe dort ab und reibt sich die vom Gangdurchqueren schmerzende Schulter.

„Keine zehn Pferde bringen mich nochmal hier runter. Wo ist das Loch?“

Das Auge brennt auf. Man kann es durch die Lider spüren. Auch wenn man den Kopf noch tiefer in die Knie presst. Jetzt nur nicht bemerkbar werden! Kein Laut! Und möglichst wenig zittern jetzt!

„Da liegt wer unterm Schutt. Sehen Sie das, Wesler?“

Der Suchstrahl hebt eine nur halb zu sehende Hand zwischen den Steinen auf dem winzigen Monitor hervor. Hightech ist das, was der Minister da auf einer dreistufigen Trittleiter balancierend eigenhändig durch das Loch geschoben hat. Elektronisch bewegliche Waffe, Kamera und Suchscheinwerfer in eines integriert. Das gibt es wahrlich nicht überall. Es hat schon seine Vorteile, wenn einem im Ministerium der Geheimdienst untersteht.

Ein Joystick dirigiert den Suchstrahl die heruntergebrochene Decke und Schuttkante entlang auf die Pfütze mitten im Raum.

„Und was ist das? Blut? Wasser? Pisse? Da steckt doch noch einer. Ich spür‘s. Riechen Sie das nicht auch, wie das da drinnen stinken tut, Wesler?“

Der nickt. Er riecht zwar nichts. Aber warum unnötig widersprechen? Ihm ist nicht klar, was all das soll. Wenn da drinnen wirklich noch einer lebt, dann wird der die nächsten Tage ganz von selber verrecken. Also wozu der ganze Aufwand?

Dann pfeift der Minister ihn durch die Zähne heran.

„Schau einer an! Sir Falstaffs Korb. Na, dann wollen wir mal.“

Die Schüsse hört der drinnen auf der Schwelle nicht. Aber er spürt es wie Blitze schräg vor sich in den Bettkorb schlagen. Drei, vier, fünf – ein Dutzend Mal. Zu zählen geht das längst nicht mehr.

Und dann, gleich nach dem Blitzen, Brandgeruch.

„Na, also!“ Der Minister zieht die Waffe aus dem Loch. Es flackert hell dahinter, wie der Scheinwerfer die Stelle verlässt. „Das brennt richtig schön, wie Zunder da drin. Halten Sie das mal!“

Wesler bekommt die Waffe in den Arm gedrückt. Unangenehm. Waffen machen Angst. Schon immer. Und immer noch.

„Die Lampe, Wesler! Diesmal geh ich voran. Und vergessen Sie die Trittleiter nicht.“

Wozu sind Referenten da? Gut, stolpert er halt als Packesel dem vorauseilenden Minister hinterdrein. Im Augenblick ist ihm alles recht. Wenn es nur endlich raus geht von hier.

Feuer! Und kein Weg zur Flucht.

Das Tier zittert da noch ein Stück tiefer zusammengekauert auf der Schwellenecke an der Tür. Was soll man tun? Der Korb brennt lichterloh. Wenn er jetzt nur nicht im Rauch erstickt.

Doch Rauch es kaum hier unten, knapp über dem Boden. Der Qualm zieht beachtlich schnell ab durchs Augenloch neben der Tür. Und er brennt auch nicht sehr lange, der Korb. Ein paar Minuten, dann fällt schon alles in Glut zusammen.

Kleider und Haare hat es da einem versengt. Doch das spürt er jetzt nicht. Da hat ihn nämlich von irgendwo her ein Schreckgedanke überfallen.

„Der Mantel!“

Keine Ahnung, warum, aber dem Mantel darf keinesfalls Schlimmes geschehen.

So, treibt es einen, wider alle Panik, zum Gluthaufen hinüber. Und, Instinkt oder Glück, er ertastet den Mantelstoff unter einem Haufen heruntergebrochenem Dreck. Schüsse und Hitze haben der Mauer rechtzeitig zugesetzt. Es gibt den Wintermantel noch, staubig, doch fast unversehrt.

Das aber merkt einer nicht. Er ist es auch so in seiner Türecke auf der Schwelle zufrieden. Noch wärmt drüben die Glut. Er braucht den Mantel nicht. So knüllt er ihn bloß zusammen zwischen Bauch und Knie und legt den Kopf auf seinen Stoff.

Für den Augenblick ist alles für ihn wieder gut. Irgendwie – etwas Entscheidendes ist jetzt anscheinend abgetan.

Und was noch weiter wichtig ist – es ist nicht mehr so elend leer in ihm und hier um ihn herum.

(Copyright ©Bernd Pol, 16.11.2005)
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7 Erinnern können

Solange er sich nicht rührt, ist es gerade noch auszuhalten. Aber wie er den Arm auch nur ein wenig bewegt, zerreißt es ihn fast. Eine Seite hat ihm das Feuer versengt, so tief zusammengekauert er auch war. Der Arm, rechts außen, das rechte Bein, ein Stück der rechten Körperseite – nichts als glutheißer Feuerschmerz.

Dazu kommt, er friert entsetzlich. Der Mantel hilft da nicht viel. Er lässt sich nicht anziehen. Es geht nicht. Höllische Schmerzen! Nicht einmal aufrichten kann man sich da. An ein Überziehen des Mantels ist gleich überhaupt nicht zu denken. Mit Mühe den schweren Stoff überwerfen, das ging gerade noch.

Das hat die Kräfte auch schon erschöpft. So hockt er Stunde um Stunde in der Türecke auf der Schwelle, zittert in Kälte und Schmerz und wartet darauf, dass irgendwann, irgendwie all das vorbeigeht.

Immerhin, dieser Schmerz ist anders. Scharf ist das und beißt – und holt ihm den Kopf ins Leben zurück. Erstes, fernes Verstehen setzt wieder ein. Nicht viel, doch tief unten fühlt er sich klar wie Kristall. Nur das Erinnern fällt immer noch schwer. So hockt er und wartet und baut hochkonzentriert durch all den brennenden Schmerz Rätsellinien ins Leben zurück.

Rätsel Nummer eins: der brennende Korb.

Der ist noch voll da. Dazu die Feuerblitze und auch, dass er die eher gespürt als gesehen hat. Und dass das irgendwie mit dem Lichtaugenlicht hinter ihm zu tun hat. Was darüber hinaus geht, bleibt aber Geheimnis. Drinnen und draußen kennt er noch nicht. Da ist noch etwas zu lösen. Er vermerkt es bei sich.

Rätsel Nummer zwei: Finsternis.

Das ist widersprüchlich. Einerseits ist sie ihm selbstverständlich. Andererseits aber ahnt er, dass das nicht immer so war. Es gab da anderes, das lag davor. Ein erstes Gefühl für Geschichte, für Geschehensabläufe steigt da auf. Unverstanden bis jetzt, aber offenbar wichtig. Er vermerkt es bei sich.

Rätsel Nummer drei: Er ist hier nicht alleine.

Das erinnert er völlig abstrakt. Das und ein entferntes Geschehen im Schutt. Kein wie oder was, nur dass da etwas war und noch immer wichtig ist. Ein Bild steht da auf wie ein Phantom, gestaltlos, unerfassbar, aber immerhin – ein Anderes ist das, fast schon ein Gegenüber. Und es macht Angst. Damit mag er sich noch nicht beschäftigen. Nicht jetzt, doch er vermerkt es bei sich.

Rätsel Nummer vier: Ich.

Das wächst aus dem Schmerz. Und aus dem Gegenüber-Phantom. Was ist das – ich? Und vor allem auch: Wer ist das? Das ist das Schwierigste. Aber es scheint das Grundlegendste zu sein. Zumindest für den Augenblick. Er vermerkt es bei sich. Damit wird er sich als erstes im Ernst beschäftigen.

Später. Wenn er sich besser fühlen sollte.
Denn auch das geht vorbei.
Es muss. Er weiß es.

Und doch ist es unwichtig geworden. Etwas anderes hat sich ins Rätseln geschlichen, handfest und erbarmungslos: Durst! Unerträglicher, brennender Durst. Das geht weit über Gefühltes und Erspürtes hinaus und drängt sich in brutaler Klarheit in den Vordergrund: Er muss trinken. Wie und was ist egal. Nur trinken. Bald. Jetzt gleich.

Und so entsteht ihm Rätsel Nummer fünf: Wasser! Hier gab es doch irgendwo Wasser.

Wasser! Wasser, so weit das Auge reicht. Nein, kein Meer. Noch nicht. Ein Fluss ist nahe der Mündung breit über die Ufer getreten. Tage hat es aus Eimern geschüttet. Dann brach der erste Deich. Jetzt hocken Leute auf Dächern. Es schüttet immer noch. Und um sie treiben die Reste ihrer Welt vorbei.

Nein, es ging ihn nicht unmittelbar an. Nur Zeitungsbilder und gefühlsaufpeitschende Berichte und ein Reporter im Radio, der unbeteiligt, aber mit sensationsgeil sich überschlagender Stimme etwas von aufgedunsenen Kühen und einer ertrunkenen Frau in irgendwelchen Baumästen weitab vom Deich ins Mikrofon gebrüllt hatte.

Das hatte sich festgesetzt. Wochenlang ritt ihm durch Tagträume eine halbnackte Frau auf einer bauchauf treibenden Kuh immer wieder an untergegangenen Bäumen vorbei, und hätte er nicht Acht auf sein Träumen gegeben, so hätten die kahlen Äste sie womöglich gepackt und ersäuft und er wäre Schuld gewesen an all dem.

Das. Und noch etwas. Ein Reporter-Nebensatz nur, oder vielleicht auch nur ein Einschiebsel in einem Zeitungsbericht. Das nämlich, dass all das nicht geschehen wäre, wären die Bauern dort am Fluss nicht bettelarm und hätte die Regierung sich nicht geweigert, rechtzeitig etwas für die Deiche zu tun.

Nur wegen Geld. Das hatte sich festgesetzt. Schicksal und Unrecht. Musste das sein? Es beschäftigte ihn das vierzehnte Jahr. Grübeln, was da anders zu machen ginge. Wie kamen die Menschen dort gemeinsam zu Geld? Und was tun, damit das Geld auch ihnen bliebe? Bis weit ins fünfzehnte Jahr hinein trieb es ihn immer wieder um.

Gemeinsam wehren. Gemeinsam verdienen. Gemeinsam tun. Das war der Schlüssel. Das lag doch klar auf der Hand.

Nur – warum taten die dann nichts? Musste man womöglich da hingehen, predigen, aufklären, aufrütteln …

Einfach nur etwas tun.

Einfach? Es ist alles andere als einfach. Da robbt einer fluchend und heulend vor Schmerz halb auf den Knien, halb auf dem Bauch, weil es aufrecht oder auf allen Vieren einfach nicht geht. Robbt als mantelbewehrtes Tier im Finstern auf spitzigem Betonbodendreck umher und sucht, was er nur vage erinnert.

Wasser. Irgendwo hier gibt es doch Wasser.

Bis er irgendwann auf eine Schutthalde stößt und nicht weiter kommt, weil er sich zwischen Schutt und Betonwand in eine Ecke manövriert hat.

Einfach nur etwas tun.

Mit Mühe wälzt er sich über die linke Seite ins Sitzen herum. Mit viel Mühe, denn links von ihm, da reißt ihm der Schutt die Seite auf, und der Wand rechts darf er auf gar keinen Fall zu nahe kommen, will er nicht bildlich gesprochen an die Decke gehen.

An die Decke gehen!

Das erwischt ihn ganz unvermittelt. An die Decke gehen! Er hängt mehr als er sitzt schräg auf dem Schutt und schüttelt sich vor Lachen. An die Decke gehen! Er weiß nicht einmal, was das ist. Aber irgendwie kommt es ihn entsetzlich witzig an und es dauert ziemlich lange bis ihn bloße Erschöpfung zum Innehalten zwingt.

An die Decke gehen.

Das ist etwas Besonderes. Das kam von ganz weit weg her in seinen Sinn. Und das Lachen kam, weil es entsetzlich ist. Und weil einer plötzlich weiß: Er hat sich an etwas Vergessenes erinnert. Das erstemal und ganz bewusst.

Er hat sich erinnert: An die Decke gehen.

Dann, übergangslos, sind Schmerzen und Durst wieder da und er müht sich nach vorne zurück auf den Bauch, um, immer den Haldenrand entlang, weiter nach dem Wasser zu suchen.

Trinken! Einfach nur trinken.

„Kommen Sie, Wesler, nehmen Sie noch einen.“ Der Minister räkelt sich lang ausgestreckt im Sessel, eine Schnapsflasche in der Hand. „Wir haben etwas zu feiern.“

Der Assistent mag eigentlich nicht. Aber er leert das Glas auf einen Zug. Er weiß, was er seinem Posten schuldig ist. Danach bekommt er ein pelziges Gefühl auf die Zunge und die Welt scheint wie in Watte gepackt. Er hasst das. Er verträgt nicht viel. Wenn diese Arbeit nicht wäre. Es bleibt noch viel zu tun.

„Sollte man nicht die Presse noch ein wenig füttern?“, fragt er, bereits ein ganz klein bisschen lallend. „Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“

„Aber Wesler? Sie sind ja schon besoffen.“ Der Minister amüsiert sich königlich. „Aber wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.“ Dann setzt er sich auf und reibt mit der Flaschenöffnung die Nasenspitze. „Allerdings bleibt noch das Problem: Wie? Und Wieviel? Wir wollen ja nicht, dass da plötzlich einer anfängt, gar zu viele Fragen zu stellen.“

Der Referent reibt die Augen klar und überlegt laut.

„Nötig wäre es. Das Nest war ja leer. Zumindest für die Kameras. Man müsste etwas Habhaftes vorweisen können. – Meinen Sie, er hat wirklich im Korb gesteckt, Herr Minister?“

„Das möchte ich ihm geraten haben. Aber, wenn Sie so fragen, sicher ist man bei so was nie. Er könnte genau so gut unter dem Schutt liegen. Die Hand, Wesler, die Hand. Damit ließe sich zur Not auch was machen. Aber was Verbranntes wäre schon besser. Macht auf den Bildern mehr her, als so eine ekelhafte, verfaulte Leiche. Wir müssen halt für die Kameras was rausziehen können von da unten.“

Der Referent schluckt. Er ahnt, an wem das Rausziehen hängen bleiben wird. Mit einem Mal fühlt er sich viel zu nüchtern.

„Dann müsste man aber den Schutt nochmal aufmachen. Nicht ganz einfach jetzt wo der Frost alles zusammengebacken hat. Und die nächsten Tage soll es regnen. Auch nicht so günstig. Für den Zustand der Leichen, meine ich.“

Dabei streckt er sein Glas aus und der Minister grinst und füllt nach.

„Schon recht, Wesler. Warten Sie halt bis nach dem Regen. Vorher kitzeln Sie die Journaille aber kräftig. Irgendwie in der Richtung, dass man eine letzte Sicherheit braucht, dass es den Chef von denen erwischt hat und dass bald nochmal was passieren wird. Sie wissen ja, wie das geht.“

Das Glas ist schon wieder leer. Der Referent fühlt sich um Einiges besser. Dennoch hat er Bedenken. Der Vollständigkeit halber.

„Und wenn man dort unten doch niemanden findet?“

„Dann, Wesler, besorgen Sie einen. Irgendwer wird schon passend als Terroristenchef herhalten können. Irgend so ein Dutzendgesicht.“

‚Gewissheit wäre aber besser‘, denkt er bei sich, der Minister. Doch das hat persönliche Gründe und geht keinen Assistenten etwas an. Für ihn selbst ist das jedenfalls sehr wichtig. Und er mag nicht mehr länger warten.

„Ziehen Sie es nur bald nach dem Regen durch. Es macht die Pressemeute nämlich ganz schön geil, wenn sie für ein paar Bilder erst durch Pfützen patschen muss.“

Eine Pfütze.

Er hat es, kurz bevor er wirklich mit der Hand hineinpatscht. Auf einmal ist das Bild wieder da. Nicht unmittelbar, nur erinnert. Eine schwarze Lache im Grau.

Fast macht ihn das Erinnern glücklich. Doch das muss warten. Auf dem Bauch tastend robbt er sich mit dem Mund mitten hinein. Viel ist es nicht mehr. Das saugt er mit spitzen Lippen alles weg. Zum Schluss leckt er noch den Boden ab. Aber das ist schon eher Genuss als Gier.

Anschließend bleibt er einfach liegen, zieht mit der Linken den Mantel über die Schultern und freut sich ein wenig. Über das Wasser zum Beispiel. Und dass er sich an das Bild von der Pfütze erinnern kann. Darüber vor allem. Und noch eines fällt ihm über all dem ein: Schade, dass er von seinem Schlürfen nichts gehört hat. Aber auch das nimmt er leicht in seiner Euphorie.

Kommt alles noch‘, denkt er.
Dann rollt er sich auf den Rücken und lächelt durchs Finstre zur Decke hinauf.

(Copyright ©Bernd Pol, 21.11.2005)

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