Sonnenuntergang
von
Bernd Pol
Nur eine Impression

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Sonnenuntergang

(aus: Stern, Fragment einer Erzählung)

Mühe macht jeder Meter, wenn die Beine nicht taugen. Die Krücken sind schwer, auch für kräftige Arme. Ein Bein ist lahm und das andere trägt nicht viel.

Aber der Abend ist schön.

Dreifüßig im Staub sind die Spuren, wenn man sie zählt. Dreifüßig, von den Krücken zwei und eine von dem schwachen Bein. Dreifüßig und geschwänzt, denn das lahme Bein schleift nach.

Die Sonne geht bald unter und die Luft ist rein und klar. Schön ist der Abend, wenn man sich aufrecht stützt und die Luft einsaugt, bis man fast platzt vor Lust.

Schön ist der Abend und weit ist die Welt.

Und mühevoll.

Denn man sieht nichts von hier, dort unmittelbar am Haus. Man muss auf den Hügel da vorn, dort, bis ganz an den Rand, wo er abfällt, steil und weit und wo die Sicht sich öffnet auf den Fluss und bis hinüber zu den Bergen am Horizont, weil die Luft klar ist.

Für einen Gesunden ist das nicht viel. Doch es zieht sich, wenn man nur auf drei Füßen geht. Sind auch die Arme kräftig und trägt das eine Bein genug für einen weiten Schwung und kommt man rascher fort mit jedem Schritt als ein Gesunder, mühevoll bleibt es und es reicht nicht weit. Ein Dutzend Schritte oder zwei, so langt die Kraft. Dann ist es aus und man muss sich aufstützen, muss sich in die Krücken hängen und durchatmen, tief durchatmen, nicht hecheln wie ein Hund, sondern frei strömen lassen die Luft, bis sie schmerzt in der Brust und der Krampf um den Hals sich löst.

Doch die Zeit ist knapp. Man muss sich eilen. Der Abend färbt bald ein und die Welt will sinken. Nicht rasten jetzt. Nur Luft. Luft. Bis es weiter reicht.

Weiter. Hinauf. Den Hügel hinauf und über die Kuppe vor, vor bis ganz an den Rand, wo er steil abfällt und wo die Sicht sich öffnet auf den Fluss. Und auf die Berge. Denn die Luft ist klar.

Es gibt einen Felsen dort zum Gegenlehnen. Eine Stufe im Gestein, wenn auch recht schmal, genügt zum Sitz. Und eine Kerbe nimmt die eine Krücke sicher auf. Das befreit den Arm für den Schweiß von der Stirn, macht die Hand frei zum Eingraben in das Moos, das hier dicht in einer Ecke wächst. Und so, dieweil die Finger im Weichen lustvoll wühlen, so kann man sich einsinken lassen, kann zusammenfallen, Eins mit sich selbst und mit der Welt, mit dem Fluss dort unten und mit den Bergen am Horizont.

Und mit dem Himmel darüber.

Da wächst sein Abend weit und klar durch diese Luft.

Doch für die Sonne ist sie zu klar.

Man darf die Sonne hier noch nicht ansehen, nicht zusehen dort, wo sie schon rollt am Horizont über ihre Säge aus Gipfeln, wo sie rollt, bis ein Zahn sie einfangen wird oder ein Tal zum Versinken. Längst schon ist sie nicht mehr weiß, ist rötlichgelb nur noch, schon längst. Doch ist die Luft zu klar, viel zu klar, dämpft das Übermaß nicht ab wie sonst. Und so rollt eine Feuerscheibe, langsam, deutlich, immer niedriger zu ihrem Grab hinab. Und noch immer darf man nicht hinsehen, darf immer noch nur beiseite schauen, blinzelnd, scheu aus den Augenwinkeln, darf einem erhaschten Bild nachträumen und wieder hin, wo das Feuer fast schon den Rand berührt und doch immer noch zu hell ist, noch immer viel zu hell.

Denn die Luft ist zu klar.

Klar ist die Luft. Man sieht die ersten Sterne schon. Die Venus ist da und dort ein anderer Großer, beinah noch blass im blassen Blau und doch schon beinah deutlich strahlend. Ein paar Wolken gewinnen Kontur, modellieren sich heraus, plastisch aus dem Untergang, aus einem Untergang, der eben knapp begonnen hat.

Und doch sind die Kanten hart, bilden sich Täler heraus und Berge und Seen, wenn auch der Himmel noch viel zu blau ist und sich erst jetzt hellorange einfärbt, in einem schmalen Streifen, mehr gelb als rot und hell, beinahe strahlend.

Dort taucht sie ein. Jetzt. Und jetzt ist sie gefangen. Hat sich verhakt an einem großen Zahn und rollt nun dort dahinter hinab, schräg hinunter in sein Folgetal. Langsam. Deutlich. Und verzögert immer noch den allerletzten Fall, wie sie sich aufbläht, zwei Drittel sichtbar nur noch, dem weniger Werden wehrt.

Fest klemmt sie sich ein in ihr Tal. Klammert sich an. Zäh. Will nicht lassen von einer Welt, die heute ihr war, ihr ganz zu eigen. Und wie sie es überwölbt, ihr Tal, in dem sie sich begräbt, so spannt sie sich ein. Und kurz, nur so für einen Atemzug, gewinnt sie doch, steht unverrückbar fest in einer letzten Majestät. Diese letzte Ewigkeit noch zum Abschied, der ihre Ewigkeit ist und die seine, der dort sitzt am Hang und nicht mehr wühlt mit der freien Hand und nicht mehr atmet. Für einen einzigen, einen unvergänglichen Zug.

Und dann geht alles ganz schnell. Man schneidet sie ab, links vom Hang und sie fällt, rollt hinab das letzte Stück, schräg und wehrt sich nicht mehr. Das allerletzte Stückchen nur noch, der letzte sichtbare Zipfel, der hält sich etwas auf. Dann geht auch er. Ein kurzes letztes Aufblitzen noch. Der letzte, der wirklich allerletzte Strahl. Nachdem alles schon vorbei ist. Kaum merklich mehr.

Dann geht der Tag.

Ist es nun vollbracht? Beginnt es jetzt nicht erst? Ist nicht die Glut das Eigentliche hier, diese Glut, die heraus bricht, die alles übergießt, den halben Horizont, ein Drittel des Himmels, die ganze Welt? Die das Grün versengt, Rot, Orange, Schwarz über alles legt. Die Feuerseen in die Wolken gießt und feuerrote Blüten über die Berge dort. Die dem Menschen den Atem wiedergibt, nur, um ihn sofort erneut zu beklemmen. Die Glut, diese alles ertränkende Glut, die dich aufsaugt, wenn du dich nur bereitet hast. Die Glut, die gierig ausschwemmt und langsam nur, doch das auf Dauer, erkaltet.

Endgültig.

Wenn der Himmel erlischt und doch zugleich damit schon wieder aufgeht, sich neu in Farben gießt, vom strahlend kalten Türkis bis hin zum letzten, tiefen, warmen, leuchtenden Schwarz.

Nie ist es hier am Himmel schwärzer als zu Beginn einer klaren Nacht im Hochsommer, wenn es im Süden nur noch rostig glimmt und sich von dort über viele Stufen von Blau hinüber schwingt bis hin zum samtenen, weichen, vollständigen Schwarz, ganz im Norden, eine Handbreit über dem Horizont, wo die Sterne noch nicht sind und die Sonne schon lange nicht mehr wirkt.

Das ist die Zeit zum Wieder-Durchatmen.

Du legst den Kopf zurück auf den Stein, zurück so weit es geht, bis der Himmel dir als Gewölbe richtig dicht und unverdeckt über den Augen steht. Leg den Kopf zurück und duld den Schmerz im Nacken. Atme ihn weg, den Schmerz. Halt den Mund geöffnet, weit, damit der Kopf sich in den Nacken legt. Atme. Atme durch den Mund. Atme sacht.

Und warte. Denn jetzt ist die Stunde der Sterne, die nicht sacht kommen, die sich nicht hereinschleichen wie der Mond, den auch der Tag nicht völlig hält. Ein Stern springt heraus aus dem Tag. Du kannst ihn klingen hören. Warte. Atme. Sieh. Und lausch. Denn die Nacht kommt nicht so laut, wie der Tag geht.

Leise.

Die Sterne springen herein.

Ein jeder für sich. Ein jeder mit einem zarten Silberglockenklang.

Der schönste, der zarteste Abschnitt der Nacht ist da.

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