Spiegelbild
Eine fantastische Liebesgeschichte
von
Bernd Pol

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© Bernd Pol 1994, Alle Rechte vorbehalten
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Spiegelbild

„Du“, sagte auf der Brücke der Mann.
„Hmm?“ sagte die Frau und lehnte sich über das Geländer, den Fluss zu begrüßen.

„Du“, sagte der Mann.
„Ja“, sagte sie.

Ein alter Angler warf seine Angel aus. Einen Augenblick hatte sie den Wunsch, in die Kreise auf dem dunklen Wasser zu spucken. Aber es reichte nicht. Er war zu weit weg. Ersatzweise spuckte sie auf ihr Spiegelbild unter der Brücke. Das spuckte zurück und grinste, kurz bevor die Tropfen sich beide auf halbem Weg trafen. Dann tauchte es im Gekräusel unter.

„Du“, sagte der Mann.
„Ja“, sagte die Frau und richtete sich auf. „Genau.“
„Genau was?“
„Genau das.“

Dann gab sie ihm einen raschen Kuss. Und sprang über das Geländer, ihrem Spiegelbild entgegen, das die Arme ausgebreitet hatte und ihr stumm entgegen jubelte.

Die Brücke war keine Brücke, höchstens ein Steg. Und der Fluss war auch kein Fluss, nur ein schmaler Kanal mit schwarzem Wasser, durch das hin und wieder winzige Frachtkähne tuckerten, nicht viele, ein Dutzend am Tag vielleicht, wenn es hoch kommt. (Aber die werden erst später wichtig.)

Der Angler half ihr aufs Ufer hinauf. Ohne ein Wort, er war sauer, was verständlich ist, wenn da mitten im Fisch jemand ins Wasser fällt und nicht einmal ertrinkt, sondern lacht und kreischt und nicht gerettet werden will.

Sie warf sich auf den Rücken auf der Uferschräge und breitete die Arme aus und fing die Sonne ein.
„Ich hab Wasser geschluckt“, brummte sie, als der Mann sich über sie beugte. „Muss ich jetzt sterben?“
Dann riss sie ihn um, weil er so bestürzt dreinschaute.

Der Angler half auch ihm wieder aufs Ufer hinauf und hob die Augenbrauen und deuete mit dem Kopf zu ihr hinüber und ließ den Zeigefinger über die Schläfe kreisen. Dazu brummte er etwas.
„Aber nicht doch“, sagte der Mann. „Die ist immer so.“
Der Angler zuckte mit den Achseln und drehte ihm den Rücken. Dann warf er die Angel wieder aus.

„Es gibt keine Fische hier!“ rief die Frau. „Ich hab es genau gesehen.“
„Trotzdem!“ knurrte der Angler.
Dann versank er in sich und war nicht mehr da.

„Da siehst du’s!“ erklärte die Frau.
„Ja“, sagte der Mann.
Er hätte sie gerne in die Arme genommen. Doch sie war zu nass. Und er auch.

„Mir ist kalt“, sagte sie, „ich erfriere bald.“
“Dann erfrieren wir gemeinsam.“
„Oh ja! Wie Himbeereis mit Sahne.“
„Und wo ist die Sahne?“
„Obendrauf.“
„Ja?“ sagte er. „Wo?“
„Hier“, sagte sie, „überall.“
„So?“ sagte er. „Wie?“
„Wirst du schon noch sehen.“

Dann verschwand sie und warf ihre nassen Sachen über die Büsche beim Steg und wollte gewärmt werden. Hinter den Büschen.

„Mit Sahne?“ fragte er.
„Mit Sahne!“ sagte sie. „Aber natürlich.“

Und der Angler angelte und warf Kreise auf das Wasser, die sich ihr Spiegelbild einfingen, das sehr glücklich aussah.

„Du“, sagte der Mann.
„Ja?“ sagte die Frau und winkte ihrem Spiegelbild zu.
„Es ist schön“, sagte der Mann.
„Ist es schön?“ sagte die Frau.
„Immer!“ sagte der Mann.
„Ach!“ sagte die Frau. „Ja, und wenn …“
„Und wenn?“
„Nichts“, sagte die Frau und warf ihrem Spiegelbild einen Kuss zu.

Doch der Wind fing den Kuss, bevor er unten ankam. Und das Spiegelbild tauchte zum Angler hinüber.

„Wärst du eifersüchtig?“ fragte die Frau.
„Auf wen?“
„Auf alle“, sagte die Frau. „Oder auf den da.“
„Wieso? Ist er dein Typ?“

Die Frau legte die Hand über die Augen. Es war ein alter Angler. Und unrasiert.

„Nein.“ sagte die Frau.
„Dann ja“, sagte der Mann.
„Und sonst?“
„Immer!“ sagte der Mann. „Auf jeden.“
Dann nahm er sie in die Arme und küsste sie lange.

Der Angler angelte. Da tuckerte ein Schiff vorbei. Und der Angler zog die Angel ein und war böse. Das Schiff merkte nichts davon und tuckerte langsam weiter. Eine junge Frau saß an Deck und spielte mit einem kleinen Mädchen.
Das Mädchen warf einen Ball. Der fiel ins Wasser. Gerade unter der Brücke.
Und das Mädchen weinte.

„Hol ihn!“ sagte die Frau.
„Wie denn?“ sagte der Mann. „Ich kann nicht schwimmen.“
„Spring!“ sagte die Frau.
„Nein“, sagte der Mann. „Ich kann nicht.“
„Dann liebst du mich nicht“, sagte die Frau. „Spring!“

Da hatte der Angler den Ball schon aus dem Wasser gefischt und hielt ihn unschlüssig in der Hand.
Auf dem Schiff hatte jemand den Motor gedrosselt. Es trieb langsam zum Ufer hin.
Der Angler stand immer noch am Wasser. Dann warf er den Ball zur Brücke hinauf.

Die Frau fing den Ball.
„So geht das“, erklärte sie. „Und du bist ein Feigling.“
Und sie rannte fort, auf den Damm, dem Schiff zu.

Das trieb dem Ufer immer näher. Das Mädchen weinte nicht mehr und wartete auf den Ball.
Doch der fiel zu kurz. Und das Mädchen weinte wieder.
Da sprang der Mann.

„Nein!“ schrie die Frau.

Aber da schwamm der Mann. Und er bekam den Ball. Und er paddelte zum Schiff und die junge Frau warf ihm eine Leiter zu und er stieg hinauf. Und der Mann küsste die junge Frau auf dem Schiff.
Und jemand schaltete den Motor wieder ein. Und das Schiff nahm Fahrt auf.
Und der Mann verschwand in der Kabine. Mit der jungen Frau.

Das Mädchen kletterte ins Ruderhaus und winkte.
Die Frau winkte zu dem Schiff hinunter. Dann wartete sie, dass das Spiegelbild wieder auftauchte.
Aber es wollte nicht kommen. Es tauchte zum Schwimmer des Anglers und spielte mit den Fischen.

„Husch!“ rief die Frau. „Wirst du wohl!“
Das verwirrte den Angler ein wenig. Er war eingenickt und hatte nichts von alledem bemerkt.
„Wie belieben?“
„Ach nichts“, rief die Frau hinüber, „Sie fangen nur gerade mein Spiegelbild.“
„Es verscheucht ihnen die Fische“, ergänzte der Mann.
„Ach so“, brummte der Angler und zog das Spiegelbild an Land. Dort rollte er es sorgfältig auseinander und ließ es in der Sonne trocknen.

Es bleichte ein wenig aus dabei, wirkte ansonsten aber recht lustig.

Die Frau jedoch war traurig geworden. Und dann begann sie zu leise zu weinen.
„Was mach ich nun?“ schluchzte sie. „Das halbe Leben hab ich jetzt verloren. Morgen sterbe ich. Oder am dritten Tag.“

Der Mann nahm sie sanft in den Arm. Und er strich ihr über das Haar. Und er knabberte ein wenig an ihrem Nacken.
„Das ist nicht schlimm.“ flüsterte er. „Wir werden gemeinsam sterben.“
„Wann?“ hauchte sie zurück.
„Heute. Und morgen.“
„Und am dritten Tag?“
„Und an jedem dritten Tag.“

Und sie winkten dem Spiegelbild noch nach, als sie gingen.

Am Kanalende fiel die Sonne ins Wasser und verzischte glutrot.
Der Angler packte sein Zeug zusammen.
Gefangen hatte er nichts.
Es gab keine Fische im Kanal.

Das Spiegelbild aber hängte er zuhause im Schlafzimmer auf. Dort besuchte es ihn an jedem Vollmond.
Und es war schön.

Überall.

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