Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Zweiter Abschnitt

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Zweiter Abschnitt
In dem der Geist versehentlich die geistlichen Geschirreintreiber aus der Welt schafft

Das Leben war schwer geworden. Aber es war nicht aussichtslos. Die Menschen gewöhnten sich nach und nach ein. Es hätte ja alles viel schlimmer kommen können.

Aber dann kam es doch noch viel schlimmer

Mit dem Zerschlagen und Zertrampeln zerbrechlicher Sachen konnte der Geist sich gerade mal ein paar hundert oder tausend Jährchen vergnügen. Dann reichte ihm auch das nicht mehr. Immer nur ein mickriger Scherbenhaufen, der ihm selbst dann mickrig war, wenn er ein dreistöckiges Haus überragte (und das war sehr viel damals)... Pah! Was war das schon?

Kein Kleinkram mehr! Gab es nicht Größeres, Knackigeres? Einfach mal was anderes?

Zur Abwechslung machte sich der Geist über die Hütten in der Umgebung her, stampfte die nieder. Die Menschen rannten schreiend in alle Richtungen davon. Er beachtete sie gar nicht. Für ihn war es so, wie wenn unsereiner in eine Pfütze stampft. Es spritzt und matscht und man freut sich darüber. Er dachte sich gar nichts weiter dabei.

Schließlich stand in der ganzen Gegend keine einzige Hütte mehr. Da ging er an die größeren Häuser. Das waren schon härtere Brocken. Sie knackten und krachten und splitterten furchtbar.

Es war schrecklich!

Aber es hatte auch sein Gutes…

Jetzt hörten die Menschen das Unheil schon von weitem. So konnten sie noch in die Berge fliehen, sich verstecken, in den Wäldern irgendwo, irgendwo in den Höhlen da oben. Dort warteten sie und lauschten in die Welt hinaus, ob nicht bald wieder endlich Ruhe würde.

Der Geist tobte natürlich nicht ständig da draußen herum. Eigentlich saß er die meiste Zeit friedlich in seinem Palast, ruhte sich aus und bewunderte seine Schätze. Das nämlich liebte er wirklich noch von Herzen, dieses Gold, die Edelsteine. Alles was richtig schön glänzte, was geheimnisvoll glitzerte, was Feuer hatte, was funkelte, das fesselte ihn noch, das band ihn fest. Tage, Wochen, Monate konnte er vor seinen Schätzen sitzen und die Welt um sich vergessen.

Mitunter geschah es, da fand er einen besonders schönen Schatz und saß nun davor und bestaunte und bewunderte ihn, ging völlig auf in seiner Herrlichkeit. Dabei wurde er ruhiger und ruhiger, vergaß seine Langeweile und brauchte viele Monate, viele Jahre, viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hindurch nichts mehr zu zerstören.

Weil aber die Menschen auch damals schon Menschen waren mit einem doch recht kurzen menschlichen Gedächtnis, redeten sie sich ein, dass der Spuk nun endgültig vorüber wäre. Das glaubten sie umso fester, je länger solche Pausen dauerten. Jedes Mal.

Sie gingen hin und bauten ihre Hütten wieder auf. Blieb es dann immer noch ruhig, bauten sie auch neue Häuser und dann neue Städte und neue Türme in die Städte. Und falls der Geist sich für längere Zeit zu einem Nickerchen zurückgezogen hatte, bauten sie sogar mächtige Burgen und völlig neue Schlösser in die Berge. Das kam gar nicht mal selten vor. Der Geist konnte ohne weiteres ein ganzes Jahrhundert verdösen. Und schlief er hin und wieder einmal richtig, war sogar Ruhe für tausend Jahre und mehr. Er hatte ja Zeit in Überfülle.

Für die Menschen aber waren schon damals hundert oder gar tausend Jahre halbe Ewigkeiten. Nach und nach vergaßen sie dabei, was der Geist alles angerichtet hatte. Außer ein paar sagenhaften Erzählungen blieb schließlich keine Erinnerung mehr übrig.

Wären die geistlichen Geschirreintreiber nicht gewesen, man hätte friedlich und glücklich und völlig erinnerungslos dahinleben können. Denn die arbeiteten auch wenn der Geist schlief. Sie sammelten ihre Teller und Tassen, ihre Töpfe und Vasen unermüdlich auf Vorrat. Sie konnten gar nicht anders. Für diese Arbeit waren sie nun einmal geschaffen worden.

Und es war auch ganz gut so.

Wehe nämlich, wenn der große und mächtige Geist von seinem Nickerchen aufwachte. Dann fühlte er sich frisch und mächtig stark und musste unbedingt und sofort etwas zu tun kriegen. Und gleich ging alles wieder von vorne los. Nur dass er von Mal zu Mal unzufriedener wurde.

Er packte den Riesenhaufen Geschirr, den seine Eintreiber während der letzten hundert oder tausend Jahre zusammengeschleppt hatten, und schmiss ihn mit einem Mal an die Wand. Das krachte beachtlich und war ihm auch recht so. Aber dann konnte er nur ein- oder zweimal darauf herumhüpfen, nur ganz wenig darauf stampfen – schon war alles zu Pulver zerfallen. Das verdarb ihm den Spaß gleich wieder. Kaum noch knackig und splittrig war es. Und vor allem: Es dauerte nicht mehr lange genug.

So wurde seine Laune von Mal zu Mal schlechter. Wilder je als zuvor stürzte er sich auf die Hütten und Häuser, auf die Städte, die Türme, auf die mächtigen Burgen und die Schlösser in den Bergen. Und alles brach krachend und splitternd unter ihm ein.

Die Menschen aber flohen entsetzt hinaus in ihre fast vergessenen Höhlen und Wälder. Dort saßen sie, horchten angstvoll in die Welt hinaus und wunderten sich, dass an ihren uralten Sagen und Märchen doch etwas Wahres gewesen war. Und sie nahmen sich fest vor, dann, wenn der Spuk endlich vorüber sei, alles ganz neu zu erzählen, viel, viel besser, viel einprägsamer, viel überzeugender, viel, viel wahrhaftiger. Diesmal, dieses Mal aber sollten die nachfolgenden Menschen das Unheil nun wirklich niemals mehr vergessen können.

Es nutzte nichts. Die schönsten Lieder, die wahrhaftigsten, die schauerlichsten Geschichten verloren ihre Wirkung, sobald der Geist sein Nickerchen machte und Ruhe gab die nächsten paar hundert Jahre. Zwar sang man die Lieder noch lange, erzählte sich gerne die Schauergeschichten, doch man glaubte ihnen nicht mehr. Warum auch? Es war ja seit Menschengedenken nichts sonderlich Schlimmes geschehen.

Nur die geistlichen Geschirreintreiber blieben. Aber die war man gewohnt und brachte sie kaum mit dem Unheil in Verbindung. Ganz im Gegenteil. Man nahm ihr Dasein und Wirken ausdrücklich in den Jahreslauf auf. Es bürgerte sich nämlich ein, dass man den Geschirreintreibern einmal im Jahr feierlich einen Sack mit den allerbilligsten Tonwaren übergab. Selbst aber aß und trank man vom feinsten Porzellan und scherte sich einen Dreck darum, dass eigentlich alles Zerbrechbare hätte abgegeben werden müssen.

Man machte ein besonderes Fest daraus, das Fest der großen Übergabe. Da nutzte man die Gelegenheit zum Essen, zum Trinken, zum Tanzen, zum Spielen und zum Singen all der alten Lieder. Und die geistlichen Geschirreintreiber saßen mittendrin, fraßen vom feinsten Porzellan, soffen aus den größten Maßkrügen und fanden kein Ende, bis sie allesamt blau waren und mitsamt ihrem Billigstgeschirr von ihren eigenen Mauleseln nach Hause geschleppt werden mussten.

Natürlich hüteten die geistlichen Geschirreintreiber sich sehr, in ihrer dienstlichen Eigenschaft an das gute Porzellan oder die großen Maßkrüge auch nur zu rühren. Das ließen sie schön wo es war. Sonst hätte man sie womöglich zum nächsten Fest der großen Übergabe nicht mehr eingeladen. So was wollten sie auf keinen Fall riskieren.

Nur kam auf diese Weise nicht mehr übermäßig viel Geschirr zusammen, so dass der Geist, war er endlich wieder aufgewacht, kaum noch etwas zum Austoben hatte. Das hatte Folgen. Unangenehme vor allem, denn nun wütete er draußen in der Welt noch viel schlimmer herum. Aber auch Unvorhergesehene. Für seine geistlichen Geschirreintreiber.

Eines Tages, als der Geist besonders gut ausgeschlafen erwachte und sich zu großen Taten berufen fühlte, schmiss er als Erstes den bereitliegenden Riesensack mit Billigstgeschirr an die Wand, dass es nur so staubte.

„Plunder!“ knurrte er verächtlich, als er sich das Ergebnis besah. Da waren kaum mehr schön knackige Scherben in dem Haufen. Es lohnte sich nicht mehr, in diesem Staub auch noch herumzutrampeln.

„Die bescheißen mich doch nicht etwa?“ dachte er. Und wurde gleich ganz beträchtlich zorniger.

Er hatte durchaus nicht unrecht damit. Durch die fehlende Aufsicht und die schönen Feste der großen Übergabe waren die Geschirreintreiber etwas nachlässig geworden. Mehr und mehr hatten sie sich damit begnügt, dass die ihnen überreichten Säcke dick genug aussahen. Ansonsten achteten sie sorgfältig darauf, dass sie nicht zu schwer wurden. Denn immerhin mussten ihre Maultiere zusammen mit den Säcken auch die besoffenen geistlichen Geschirreintreiber nach Hause schaffen. Die waren gerade schwer genug.

So kam allerdings nicht mehr viel und vor allem nichts sonderlich Brauchbares zum Zerschlagen zusammen.

Das konnte gar nicht gut gehen.

Der Geist musste einfach mal kräftig durchgreifen. Es blieb ihm da gar nichts übrig.

So versammelte er seine Geschirreintreiber um sich und blickte sie der Reihe nach scharf an. Und es gefiel ihm gar nicht, was er da sah: eine verkommene Bande von fetten, menschenähnlichen Wesen, die nach allem aussahen, nur nicht nach Arbeit. Und gleich wurde er ein gewaltiges Stück zorniger.

„Was meint ihr denn, wozu ihr da seid?“ brüllte er.

Da zuckten die Geschirreintreiber zusammen. Nicht aus Angst, sondern weil ihnen ziemlich die Köpfe schmerzten. Hatten sie doch gerade gestern ein besonders ausgiebiges Fest der großen Übergabe hinter sich gebracht. Die meisten konnten sich nicht daran erinnern, wie sie nach Hause gekommen waren. Und was diese Zusammenkunft hier sollte und warum dieses Ungetüm da einen derartigen Lärm machte, war keinem einzigen von ihnen klar.

Immerhin hatte der Geist da mehrere Jahrhunderte geschlafen. Das reichte für viele Generationen geistlicher Geschirreintreiber, die ihre Arbeit nur deshalb machten, weil sie halt nichts anderes konnten. Das Geschirreintreiben ging bei ihnen vom Vater auf den Sohn über. Anderes war nicht vorgesehen. Es war eine rein gewohnheitsmäßige Beschäftigung, die etwas mit dem großen Fest der Übergabe zu tun hatte. Komplizierte Fragen waren da nicht vorgesehen. So etwas hatten sie nun mal nicht gelernt.

Alles, was sie überhaupt fragten, war: „Nun, wie viel habt ihr denn diesmal?“ Und: „Was gibt es zu Essen?“ Und: „Wie ist der Wein geworden dieses Jahr?“ Und bestenfalls zum Abschluss noch ein freundliches: „Na dann bis zum nächsten Mal!“

Vorausgesetzt, sie waren in ihrem Suff zu so was noch imstande.

An das Abliefern gehöriger Mengen guten Geschirrs jedenfalls dachten sie noch am allerwenigsten. So standen sie jetzt auch nur reglos beisammen und sagten nichts, als der Geist sie anbrüllte: „Nun? Wie ist es? Antwort: Wozu seid ihr auf der Welt?“

Sie schwiegen. Teils aus Kopfweh. Teils aus Trotz. Sie waren es nicht gewohnt, dass man sie so anbrüllte. Zum größten Teil aber waren sie einfach zu dumm und verstanden gar nicht, was all das Geschrei sollte.

Der Geist wurde immer zorniger und brüllte etwas von: „Unfähige Bande!“ oder so und schließlich, als er sich ganz besonders aufgeregt hatte: „Ich wollte, es hätte euch niemals gegeben!“

Es war ein reines Versehen.

Augenblicklich machte es: »Puff!« Danach waren alle geistlichen Geschirreintreiber verschwunden. Und mit ihnen das Geschirr, das sie eingetrieben hatten. Denn nach seinem unbedachten Wunsch hatte es all das ja überhaupt nicht gegeben. Alles war unverändert so, wie es früher mal gewesen war.

Im ersten Augenblick war ihm das sehr recht. Vorübergehend war es ihm wieder etwas Neues geworden, all das von früher Altgewohnte. Eine Weile genoss er es, dass sich gegenüber der Zeit vor den geistlichen Geschirreintreibern rein gar nichts verändert hatte.

Eine Sache aber bemerkte er nicht.

Obwohl die doch eigentlich recht bemerkenswert war.

Es zeigte sich nämlich in den folgenden Jahren, dass selbst die Macht auch des mächtigsten Geistes, den es je gegeben hatte, ihre Grenzen hatte. Denn obwohl es keine geistlichen Geschirreintreiber gab (er verzichtete darauf, sich neue zu wünschen) und obwohl es nach seinem ausgesprochenen Wunsch auch niemals welche gegeben haben sollte, feierten die Menschen weiterhin jedes Jahr ihr altgewohntes Fest der großen Übergabe.

Da wurde fröhlich gefressen und gesoffen nach Herzenslust. Man tanzte. Man sang die alten Lieder. Den Höhepunkt aber gab es ganz zum Schluss. Da warfen die jungen Männer der Gegend mit großem Getöse einen riesigen Sack voll allerbilligster Tonwaren den nächstbesten Abhang hinunter.

Allerdings konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, weshalb das geschah.

Der Geist jedoch hatte von all dem keine Ahnung. Er wusste nichts davon, dass er das, was er einmal geschaffen hatte, nicht mehr völlig aus der Welt entfernen konnte.

Allerdings war ihm das auch nicht so wichtig.

Es interessierte ihn nämlich überhaupt nicht, was die Menschen sagten und dachten, worüber sie stritten, wovon sie wussten und wovon nicht. Wahrscheinlich nahm er zu jener Zeit die Menschen überhaupt nicht als etwas Besonderes wahr. Sie wuselten halt da draußen herum. Er benutzte sie, wenn er sie brauchte. Er vergaß sie, wenn er keinen Bedarf hatte. Warum sich unnötig Gedanken machen?

So war es schon immer gewesen. Aber dann blieb es doch nicht für immer so. Denn die Geschichte geht noch weiter.

Und sie geht erst einmal sehr böse weiter.

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