Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Vierter Abschnitt

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Vierter Abschnitt
In dem die Ältesten und Weisesten im Rat beschließen, den Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten um Hilfe zu bitten

Eines Tages gab es in einem Land irgendwo fern von jener Gegend einen großen, weisen und sehr zauberkundigen Mann. Er entstammte einer uralten Familie von Weisen und Zauberkundigen. Schon seine Eltern waren Weise und Zauberkundige gewesen und deren Eltern auch und ebenso deren Eltern und so weiter, so weit ein Mensch überhaupt zurückdenken kann.

Seine Zauberkraft war so stark, dass er es ohne weiteres mit den mächtigsten Geistern seiner Zeit aufnehmen konnte. Sein Ruf verbreitete sich in alle Weltgegenden. Denn er war gütig und weise und half den Menschen, wo immer es ging.

Hier bot sich endlich Rettung an.

Als nämlich der Geist wieder einmal besonders schlimm gehaust und alles, aber auch alles zerstört und gestohlen hatte, waren es die Menschen endgültig leid. Sie setzten sich zusammen und berieten, ob sie das Land nicht lieber aufgeben und alle zusammen auswandern sollten.

Auswandern! Wenn das nur ginge.

Natürlich, gegangen wäre das schon. So ganz allgemein und von außen gesehen. Die Welt war noch groß damals und irgendwo fand sich für jeden noch ein Plätzchen, an dem er glücklich und in Frieden leben konnte.

Aber die Heimat aufgeben? Das Land, in dem schon die Väter und die Vorväter, in dem die Mütter und die Urmütter gelebt, geliebt, gekämpft und gearbeitet hatten? Nein!

Vor allem eines: Man konnte diese Ahnen nicht mitnehmen. Ohne Ahnen aber ging es nicht. Ihre Hilfe, ihre Weisheit machte das Leben ja erst möglich. Was immer die Menschen damals taten, was immer sie berieten, jedes Mal waren die Ahnen dabei. Sie schafften mit, sie berieten mit. Ihr Dabeisein, ihr Rat waren lebenswichtig.

Man konnte die Ahnen nicht aus dem Land entfernen. Sie waren ja längst gestorben, lebten in der Erde weiter und in den Bäumen, in den Flüssen und im Vieh, in den Häusern und Brunnen, in den Kammern, in den Betten der Menschen. Unsichtbar begleiteten sie ihre Nachkommen auf allen Wegen durch ihr angestammtes Land.

Aber auch nur dort. Wie hätte man sie da mitnehmen können?

So machte man noch einen letzten Versuch. Vielleicht gelang es ja doch. Vielleicht konnte man doch noch auf Dauer Ruhe vor dem Unheil bekommen, das immer wieder und in immer kürzeren Abständen über die Menschen hereinbrach.

Die Ältesten und Weisen, die Zauberer aller Dörfer und Städte, die alten Männer und alten Frauen, alle Führer und Lehrer der Menschen setzten sich zusammen und dachten über einen Ausweg nach. Und ihre Ahnen wohnten der Versammlung unsichtbar bei.

Doch was immer sie auch erdachten und was immer ihnen auch einfiel, nichts versprach wirkliche Hilfe. Alles war schon einmal, schon zweimal, schon öfter ausprobiert worden. Und nichts, aber auch gar nichts hatte wirklich geholfen.

Da stand der Älteste und Weiseste auf, räusperte sich und sprach: „Alle unsere Kräfte und Zauber sind zu schwach gegen das Unheil. Immer wieder bricht es neu über uns herein. Wir wissen nicht einmal, woher das Elend wirklich kommt. – Einige sagen, es sei die Sühne für eine Schuld, die die Ahnen vor unvordenklich langer Zeit auf sich geladen haben.“

Hier schüttelten die Ahnen, die unsichtbar dem Rat beiwohnten, nachdrücklich die Köpfe. Nein! Niemand sollte die Schuld auf sie abwälzen!

„Andere glauben“, fuhr der Älteste und Weiseste fort, „unsere Zeit sei einfach besonders schwer. Wieder andere aber sind überzeugt, dass ein Fluch auf uns liegt, weil wir im Reich des Bösen leben.“

Hier nickten die Ältesten und Weisen. Auch die Ahnen, die unsichtbar unter ihnen saßen, nickten. Wirklich, die Zeit war schwer. Und das Böse war allgegenwärtig.

„Seht, wir hatten Boten ausgeschickt“, erklärte der Älteste und Weiseste. „Und die Boten haben gehört, dass es andere Länder in der Welt gibt. Länder, in denen die Menschen friedlicher und glücklicher sind als wir. Sie kennen unser Unheil nicht. Sie sind von solchem Unglück verschont.“

„Das wissen wir alles“, murmelten die anderen Ältesten und Weisen. „Nur, was sollen wir tun?“

„Ja, was sollen wir tun?“ murmelten die Ahnen, die unsichtbar dabei saßen. Und sie fürchteten sich etwas vor dem, was nun womöglich kam.

„Nun“, sagte der Älteste und Weiseste von allen. „Viele raten deshalb, wir sollten das Land verlassen und irgendwo hingehen, wo man dieses Unheil nicht kennt, wo wir in Ruhe und Frieden leben, wo wir arbeiten und glücklich sein können.“

„Jawohl!“ nickten da viele von den Ältesten und Weisen gewichtig. „Jawohl, so ist das. Es bleibt uns doch keine andere Wahl.“

»Nein! Auf gar keinen Fall!« Die Ahnen protestierten energisch. Aber es achtete kaum jemand darauf. Sie waren nun mal unsichtbar und unhörbar. Für normale Ohren jedenfalls.

„Die Ahnen finden, dass uns das nicht wirklich weiterhilft“, half ihnen der Älteste und Weiseste von allen.

„Aber wieso denn nicht?“ wollten hier die etwas weniger Weisen und die nicht ganz so Alten wissen. „Müssen wir denn das Unheil bis ans Ende der Welt ertragen? Warum tut denn keiner was?“

»Weil wir keine Ahnung haben«, erklärte der Älteste und Weiseste da. »Wir wissen nun mal nicht genug. Seht, wenn wirklich ein Fluch auf uns liegt, so werden wir ihn mit uns nehmen. Ist es aber die Zeit, die besonders schwer ist, so müssen wir uns fragen, warum die Zeit nicht überall auf der Welt so schwer ist. Warum leiden nicht alle Menschen in allen Weltgegenden so wie wir?

Denkt an die Folgen: Wenn wir auswandern, nehmen wir womöglich die schwere Zeit mit uns und schaffen sie zu den anderen Menschen. So etwas dürfen wir keinesfalls tun.“

„Richtig!“ riefen da die Ahnen, die dem Rat unsichtbar beiwohnten.

„Richtig!“ riefen auch die Ältesten und Weisesten und nickten gewichtig mit den Köpfen. „Nein, so etwas dürfen wir keinesfalls tun. Es wäre unverantwortlich. Die Ahnen würden das niemals verzeihen.“

Und die Ahnen, die unsichtbar dem Rat beiwohnten, nickten nachdrücklich mit den Köpfen.

„Seht ihr!“ sagte da der Älteste und Weiseste von allen. „Und sollten wir wirklich im Reich des Bösen leben, ist es genauso. Denn wer sagt uns, dass das Böse nicht mitkommt? Oder dass es uns sucht, wenn wir nicht mehr da sind? Das nutzt nichts. Wir dürfen es nicht tun.“

„Ja!“ sagten da die Ältesten und Weisesten und nickten bedächtig. „Ja! Ja! Ja!“

Die nicht ganz so Weisen aber und die Ungeduldigen, die jünger waren als die ganz Alten und die ganz Weisen des Volkes, die waren überhaupt nicht zufrieden.

„Das nutzt doch alles nichts“, riefen sie durcheinander. „Wir brauchen Hilfe. Sonst hört der Schlamassel ja überhaupt nicht mehr auf. Und das geht doch auch nicht. Oder?“

»Genau so was wollte ich vorschlagen«, sagte der Älteste und Weiseste ganz ruhig.

»Was wolltest du vorschlagen?« fragten da die anderen Ältesten und Weisen. Und die Ahnen, die unsichtbar dem Rat beiwohnten, rückten näher heran. Denn sie hörten nicht mehr so gut.

„Dass wir uns Hilfe holen. Wenn selbst wir schon nicht mehr weiter wissen. Wo wir doch wirklich die Ältesten und Weisesten von allen sind.“

An dieser Stelle nickten die anderen Ältesten und Weisen beifällig. Einige der Ahnen aber, die dem Rat unsichtbar beiwohnten, rümpften die Nase. Sie mochten nicht gerne übergangen werden. Schließlich waren auch sie einmal sehr alt und sehr weise gewesen.

„Und wenn auch die weisesten und ältesten Ahnen nicht mehr weiterhelfen können...“, fuhr der Älteste und Weiseste von allen fort.

An dieser Stelle nickten die Ahnen, die dem Rat unsichtbar beiwohnten, beifällig mit den Köpfen. Denn sie freuten sich, dass sie nicht übergangen worden waren. Gleichzeitig aber hoben sie bedauernd Schultern und Hände. Sie wussten leider auch keinen Rat. Diese Geste konnten sie sich leisten. Es sah sie ja kaum einer.

„... wenn also all unsere versammelte Weisheit und Zauberkraft nichts nutzt“, schloss der Älteste und Weiseste, „dann bleibt nur noch der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste der Welt. Wir müssen ihn bitten, uns zu helfen.“

Und die anderen Ältesten und Weisen und all die Ahnen, die dem Rat unsichtbar beiwohnten, nickten beifällig mit den Köpfen.

„Ihr wisst, wen ich meine«, sagte der Älteste und Weiseste. »Wir sollten eine Abordnung zu ihm schicken. Sie wird ihm unser Elend berichten. Sie wird ihn um Rat und Hilfe bitten. Wenn auch der Allerweiseste uns nicht helfen kann, dann hilft uns niemand mehr. Dann gibt es einfach keine Hilfe. Dann bleibt alles so wie es ist. Und das ist unerträglich!“

Und wieder nickten die anderen Ältesten und Weisen und alle Ahnen, die unsichtbar dem Rat beiwohnten, beifällig mit den Köpfen.

Man schritt zur Tat. Die Ältesten und Weisen wählten umständlich die Überzeugendsten und Redegewandtesten unter sich aus. Die Ahnen wohnten dem unsichtbar bei und nickten jedes Mal beifällig, weil sie mit jeder Wahl einverstanden waren.

Das hatte seien guten Grund, denn jede einzelne Wahl wurde wie es sich gehörte durch ausgiebige Trankopfer besiegelt. Und die kamen vor allem den Ahnen zugute.

Danach gingen alle, die Ältesten und Weisen und die Ahnen, die unsichtbar dem Rat beigewohnt und etwas über den Durst getrunken hatten, nach Hause und ruhten sich aus. Es war alles doch sehr anstrengend gewesen.

Die gewählte Abordnung aber machte sich sofort auf den Weg zum Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten um ihm ihre Sorgen und Nöte vorzutragen und seinen Rat zu erbitten. Denn er war sehr gütig und sehr weise und half jedem Menschen, so gut und so weit er nur konnte.

Wenn aber der auch nicht mehr weiter wusste?

Dann wäre die Geschichte hier im Grunde vorbei. Es gäbe nichts wirklich Neues mehr zu berichten, und das hätte die vielen Worte nicht gelohnt.

Sie geht aber noch ein gutes Stück weiter. Wir werden sehen.

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