Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Fünfter Abschnitt

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Fünfter Abschnitt
In dem der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste drei Riesenflaschen mit Schnaps erhält und was die Ältesten und Weisesten dazu zu sagen haben

Sie ist wirklich noch lange nicht aus, unsere Geschichte. Sie geht noch weiter. Sie geht sogar noch sehr lange weiter. Denn der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste der Welt hörte die Abordnung an, vernahm ihre Sorgen und Nöte und erhörte ihre Bitte und ging tief hinunter in seine Zauberhöhle, sieben Jahre lang. Denn er musste Nachdenken und Nachschlagen in all den Zauberbüchern, die er von seinen Ahnen ererbt hatte.

Nur seine Ahnen umgaben ihn unsichtbar und halfen ihm, so gut sie konnten. Schließlich waren sie ja auch einmal große Weise und Zauberkundige gewesen.

Sieben Jahre halfen sie ihm. Die ganzen sieben Jahre lang.

Erst als der letzte Tag davon vorüber war, stieg der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste wieder auf die Welt zurück. Dort sammelte die Abordnung um sich, die getreulich all die langen Jahre vor der Zauberhöhle ausgeharrt hatte. Und er sprach zu ihnen:

„Also gut, Kinder, ich helfe euch. Ihr müsst mir dafür nur die allergrößte Flasche bringen, die es auf der Welt gibt. Und sie ich will sie voll haben mit dem allerbesten und allerteuersten Schnaps, den es gibt. Bis oben hin.“

„Du willst Schnaps haben?“ fragten die Ältesten und Weisen der Abordnung. Und sie wunderten sich sehr.

„Jawohl!“ sagte der Allerweiseste und Allerälteste. „Und seid mir ja nicht zu knauserig! Sonst helfe ich euch nicht.“

„Ja, Allerweisester!“ knurrten da die Ältesten und Weisen. Und widerwillig schickten sie sich an, nach Hause zu gehen. Unterwegs aber steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten: „Hättet ihr gedacht, dass der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste so ein Säufer ist?“

Sie kamen nach Hause und berichteten alles getreulich dem Rat der Ältesten und Weisen. Die Ahnen aber, die dem Bericht unsichtbar beiwohnten, schüttelten bedenklich die Köpfe. Das hatten sie nicht erwartet, dass der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste der Welt solch ein großer Säufer sei.

Aber was blieb den Menschen übrig? Mussten sie halt dem Ansinnen folgen. Die besten Glasbläser des Landes schufen die größte Flasche, die bis dahin je geblasen worden war. Sie wurde größer als der größte Mann. Und der war fast so groß wie ein Baum.

Derweil sammelte man ein ganzes Jahr den allerbesten und allerteuersten Schnaps überall im Land. Den füllte man in die Flasche und machte alles zur Abreise bereit. Als aber die Riesenflasche auf ihrem Ochsenkarren zur Abfahrt bereit war, da schüttelten viele Älteste und Weise bedauernd die Köpfe.

„Wer weiß, ob es das wert ist? Der schöne Schnaps!“

Denn sie waren recht kräftige Trinker und hätten den Schnaps gerne selbst gehabt. Und die Ahnen, die der Abfahrt unsichtbar beiwohnten, schüttelten ebenfalls die Köpfe und trauerten den vielen Trankopfern nach, die ihnen aus dieser Flasche hätten dargebracht werden können.

Es half aber alles nichts. Der Zug setzte sich in Marsch. Und nach einem weiteren Jahr beschwerlicher und gefährlicher Fahrt, bei der man sich gegen viele durstige Räuber zu wehren hatte, kam alles wohlbehalten beim Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten der Welt an.

Vor der Zauberhöhle luden sie die Flasche ab. Ein Kinderchor sang ein besonders schönes, besonders altes Trinklied. Und der Älteste und Weiseste der Abordnung hielt eine lange Ansprache, die er mit den Worten schloss: „Hier ist also die Flasche, Allerweisester. Wohl bekomm's!"

Der aber ging sieben Tage und sieben Nächte um die Riesenflasche herum, strich sich den Bart, leckte sich die Lippen und sagte dann mit Nachdruck und viel Würde: „Tut mir leid. Das reicht nicht.“

Da wurden die Abgesandten der Ältesten und Weisesten sehr blass. Und sie berieten sich untereinander und sie fragten: „Du willst uns nicht helfen?“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber streckte die Hände aus und lächelte gütig.

„Es ist halt nicht genug!“ erklärte er. „Die Flasche ist zu klein. Ich muss mehr, noch viel, viel mehr Schnaps haben.“

Da berieten sich die Abgesandten der Ältesten und Weisesten erneut untereinander und gaben schließlich nach.

„Wie du willst, Allerweisester. Aber was fangen wir jetzt mit der Flasche hier an?“

„Ach, lasst sie nur hier“, lächelte der. „Ich werde schon irgendwie fertig damit.“

„Dein Wunsch sei uns Befehl, Allerweisester!“ seufzten da die Ältesten und Weisen. Und sie machten sich wieder auf den Weg nach Hause. Unterwegs aber steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten: „Es ist schon traurig, wer heutzutage alles Allerweisester und Allerzauberkräftigster werden kann!“

Wie sie dann zu Hause dem Rat der Ältesten und Weisesten Bericht erstattet hatten, murrten auch die Ahnen, die unsichtbar dem Rat beiwohnten, denn solch einen Säufer hatte es sogar zu ihren Lebzeiten nicht gegeben.

Nun waren aber gerade drei Riesen im Land unterwegs, die alle erreichbaren Schaf- und Rinderherden samt Hirten und Hirtinnen auffraßen, so dass die Lage wirklich bedenklich wurde. Das gab den Ausschlag.

Die Ältesten und Weisesten beschlossen unter dem sehr widerwilligen Kopfnicken der Ahnen, die dem Beschlusss unsichtbar beiwohnten, halt eine noch größere Flasche mit noch mehr und noch besserem Schnaps anzuschaffen, nur damit das Land endlich zur Ruhe käme.

Außerdem waren sie müde und durstig. Aber das sagten sie nicht.

Ganze drei Jahre brauchten die besten Glasbläser im ganzen Land für die allergrößte Flasche, die es jemals gegeben hatte. So groß wie ein fünfstöckiges Haus wurde sie und reich verziert und bis obenhin mit dem aller-allerbesten und aller-allerteuersten Schnaps gefüllt, den es nur gab.

Es ruinierte sie beinahe, aber sie schafften es.

Doch als die Flasche auf den Weg ging, murrten die Trinker im Rat gemeinsam mit den Ahnen, welche der Abfahrt unsichtbar beiwohnten. Denn es war wirklich eine Schande, was ihnen da alles entging.

Es half aber alles nichts. Die Flasche wurde auf besonders kräftige Ochsenkarren geladen und auf einen Weg gebracht, den die hundert besten Straßenbauer extra für diesen Zweck schnurgerade durch Berge und Täler geschaufelt hatten. Das sollte sicherstellen, dass dem Schnaps möglichst nichts passierte.

Hundert der besten Soldaten bewachten die Flasche und wehrten unzählige der allerkräftigsten und allerdurstigsten Räuber ab. Das fiel ihnen nicht leicht, hätten sie doch den Schnaps gerne für sich selber gehabt. Doch waren sie im Dienst. Nicht einmal ein kleiner Probeschluck ab und zu war ihnen erlaubt.

Drei Jahre dauerte die mühsame Fahrt. Dann war alles wohlbehalten vor der Zauberhöhle angekommen.

Noch mal drei Wochen dauerte es, bis die Flasche von den Ochsenkarren geladen war und der Kinderchor ein sehr schönes, sehr altes Trinklied gesungen und der Älteste und Weiseste aus der Abordnung eine längere Ansprache gehalten hatte, die er mit den folgenden Worten schloss: „Hier ist also dein Schnaps, Allerweisester. Mehr gibt es aber nicht!“

Da zog der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste sieben Tage und sieben Nächte um die Riesenflasche herum und strich sich den Bart und leckte sich die Lippen und seine Ahnen zogen unsichtbar mit ihm und strichen ihre Bärte und leckten ihre Lippen. Dann endlich entschied er: „Tut mir leid, Kinder. Aber das reicht immer noch nicht!“

Die Ältesten und Weisesten der Abordnung aber wurden noch blasser als beim ersten Mal und riefen entsetzt: „Nein! Aber nein, Allerweisester! Das kannst du uns doch nicht antun!“

Der aber blickte ihnen nur fest in die Augen, schüttelte sanft den Kopf und sagte mit Nachdruck: „Ehrlich, ich kann euch nur helfen, wenn ihr mir noch mehr, noch sehr viel mehr von dem Zeug da bringt. Ich brauch das halt.“

Doch damit sie nicht all ihren Mut verloren, richtete er über sieben Tage und sieben Nächte ein herrliches Fest aus, bei dem jeder nach Herzenslust fressen und von dem Schnaps saufen durfte, was nur in ihn hinein passte.

Als das Fest vorbei war, waren die Ältesten und Weisesten, welche die Abordnung bildeten, nicht mehr ganz nüchtern, denn der Schnaps war wirklich sehr gut und sehr stark gewesen. Und sie blickten etwas unsicher an der Flasche empor und die war fast noch genau so voll wie vorher und sie hoben bedauernd die Schultern und Hände und sagten: „Wie du willst, Allerweisester. Werden wir dir halt noch mehr Schnaps besorgen. Aber was machen wir jetzt mit der Flasche hier?“

„Ach, lasst sie nur da“, sagte der und lächelte gütig. „Ich werde schon damit fertig werden.“

„Sei's drum, Allerweisester“, gaben die Ältesten und Weisesten nach und machten sich auf den Weg nach Hause. Unterwegs aber steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten: „Allmählich wird er unverschämt, der Alte!“

„Aber der Schnaps war gut“, setzten sie nach einer Weile hinzu und zogen mit schweren Köpfen langsam weiter.

Man kann sich vorstellen, was los war im Rat, als die Abordnung zurückgekommen war und Bericht erstattet hatte. Am meisten tobten die Ahnen, welche dem Tumult unsichtbar beiwohnten. Um ein Haar wären sie sichtbar geworden, so sehr ärgerten sie sich.

Noch mehr Schnaps! Und das für einen Weisen! Ha!

Doch alles Jammern und Schimpfen änderte nichts an ihrem Geschick. Da waren nämlich sieben Drachen auf einmal unterwegs. Die stahlen alles Gold der Gegend zusammen und raubten sogar, was noch viel schlimmer war, alle Jungfrauen, deren sie habhaft werden konnten. Denn der Geist war auf den Gedanken verfallen, dass er so ja noch viel mehr Spaß haben könne.

Deswegen beschloss man, diesmal, aber wirklich nur dieses eine Mal noch, dem Wunsch des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten zu folgen und eine noch größere Flasche mit noch mehr vom aller-aller-allerbesten und aller-aller-allerteuersten Schnaps zusammenzubringen.

Sieben Jahre brauchten sie diesmal dazu. Und die Flasche wurde fast so groß wie ein richtiger Berg.

Sie war so schwer, dass alle Ochsenkarren des Landes unter ihr zusammenbrachen. Erst ein vereinter, sehr mächtiger Zauber aller Zauberer des Landes nahm ihr wenigstens so viel Gewicht, dass man mit großer Mühe tausend extra für diesen Zweck angefertigte und mit kräftigen Zaubern verstärkte Ochsengespanne unterschieben konnte. Und selbst die brachten das Monstrum nur langsam und mühsam in Bewegung.

„Es ist kaum zu glauben!“ murrten die Ahnen, die der Abfahrt unsichtbar beiwohnten. „Der schöne, schöne Schnaps.“

Und sie beschlossen, diesmal, dieses eine Mal ihr Land zu verlassen und die Flasche zu begleiten.

Man stelle sich das vor! Die Ahnen verlassen das Land!

Aber dann war es doch recht gut so. Denn die Reise währte sehr lange. Und es mussten nicht nur sehr, wirklich sehr durstige echte Räuber aus Fleisch und Blut abgewehrt werden. Es gab da auch noch eine Unmenge ungemein durstiger Geister der nicht sichtbaren Welt, die ausgesprochen scharf waren auf die Flasche und ihren Inhalt. Selbst die vereinten Kräfte der stärksten Ahnen konnten ihren Ansturm kaum abschlagen.

Sieben Jahre dauerte es daher, bis der denkwürdigste Zug aller Zeiten endlich vor der Zauberhöhle angekommen war.

Noch sehr lange kündeten alte Sagen davon. Und jeder gute Trinker beherrschte das schöne alte Lied, das der Kinderchor zur Begrüßung sang.

Der Schluss der kleinen Ansprache jedoch, die der Älteste und Weiseste der Abordnung unter dem beifälligen Kopfnicken aller Ahnen hielt, die unsichtbar der Übergabe beiwohnten, blieb den Menschen noch viele hundert Jahre in Erinnerung: „Da ist die Flasche, Allerweisester. Dass du dir nur nicht die Gurgel absäufst. Mehr gibt es nun wirklich nicht! Da kannst du machen, was du willst!“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber strich sich den Bart und leckte sich die Lippen und zog sieben Tage und Nächte um die Flasche herum, und sämtliche Ahnen, die unsichtbar in der Gegend versammelt waren, zogen mit ihm und strichen sich die Bärte und leckten sich die Lippen. Und er beriet sich mit seinen Vorfahren und die stimmten zu und so entschied er endlich: „Nun gut. Damit können wir's ja mal probieren.“

Was ging da für ein Aufatmen durch die Abordnung samt allen Ahnen, die unsichtbar mit auf die Antwort geartet hatten!

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber richtete ein Fest ein, welches dreiunddreißig Tage dauerte und bei dem der Schnaps nur so in Strömen floss und bei dem es so viele Trankopfer für die Ahnen gab, dass denen ganz wirbelig zumute wurde – dabei konnten sie nun wirklich eine ganze Menge vertragen.

„Sehr gut!“ sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste schließlich, als alles vorbei war. „Dann wollen wir mal! Ich brauche aber noch einen Kessel, in den dieses Monstrum hier hineinpasst. Und vor allem: Bringt mir einen großen, passenden, goldenen Stöpsel, besetzt mit den schönsten Diamanten und Edelsteinen der Welt, damit die Flasche ordentlich verschlossen werden kann.“

Wie? Noch mehr? War der viele Schnaps nicht gerade genug?

„Nein, Allerweisester!“ riefen da die Ältesten und Weisesten, welche die Abordnung bildeten und all die unsichtbar mitgezogenen Ahnen stimmten ihnen kräftig zu. „Nein, irgend was musst du schon selber machen!“

Da sah er sie lange und weise lächelnd an, nickte dann mit dem Kopf und antwortete schließlich: „Na gut. Wenn ihr meint. Es geht natürlich auch mit ein paar Zaubern. Das strengt halt mehr an. Und es dauert etwas länger.“

Wie atmeten sie auf, die Ältesten und Weisesten, welche die Abordnung bildeten! Und diesmal ließen sie sich bereitwillig wieder nach Hause schicken: „Nun geht mal schön. Ihr werdet von mir hören, wenn es soweit ist.“

Sie machten sich auf ihren Weg. Unterwegs aber steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten: „Jetzt haben wir’s ihm aber gezeigt, dem alten Saufkopf!« Und die Ahnen, die unsichtbar dem Flüstern beiwohnten, nickten bestätigend mit den Köpfen.

Eine Frage aber beschäftigte sie alle den ganzen weiten Heimweg lang: „Wie will der bloß diese Riesenflasche leer bekommen?“

Denn trotz dreiunddreißig Sauf- und Feiertagen war noch nicht einmal der Rand der Flasche richtig trocken geworden.

Und das will etwas heißen bei so vielen Menschen und ihrem prächtigen, fast unstillbaren Durst.

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