Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Sechster Abschnitt

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Sechster Abschnitt
In dem sich der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste mit seinen Ahnen berät und der Großvaterahne ein beachtlich großes Trankopfer erhält

Das mit den Flaschen und all dem Schnaps in den Flaschen war in der Tat ein Problem. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste hatte ja keinesfalls vor, die berggroße Riesenflasche selbst zu leeren. Auch die hausgroße war nicht nach seinem Geschmack. Nicht einmal nach der mannsgroßen Flasche, die man ihm ganz zu Anfang gebracht hatte, stand ihm der Sinn.

Er trank ohnehin nur sehr mäßig. Ein klarer Kopf war ihm lieber. Nur mit klarem Kopf konnte er weise und zauberkräftig genug sein. Nur so hatte er die Wurzel des Übels entdecken können. Nicht ganz ohne Hilfe selbstverständlich, immerhin hatten seine Ahnen hier und da nachgeholfen. Aber das gehörte sich so.

Wie dem auch sei, mittlerweile wusste er, welch ein ungemein mächtiger Geist hinter all dem Unheil steckte. Doch wie das alles zusammenhing, das war auch dem Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten verborgen geblieben. Selbst seine vielen Ahnen hatten ihm da nicht helfen können. Nur eines war klar: Das Übel musste an der Wurzel gepackt werden.

Der alte böse Geist musste verschwinden. Ausgeschaltet werden musste er. Endgültig. Oder doch zumindest so lange, wie es Menschen gab. Und das sollte eigentlich mit den Flaschen und all dem Schnaps darin gehen.

Ärgerlicherweise hatte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste keine Ahnung, wie das anzufangen war. Es war eine Idee gewesen, ein spontaner Einfall, nur um überhaupt etwas zu tun.

Und jetzt – die Flasche, der Schnaps – und dann?

„Ob man den Geist besoffen machen kann?“ fragte er tief unten in seiner Zauberhöhle die Ahnen.

„Du spinnst!“ war die einhellige Antwort. „Hast du so wenig Ahnung von Geistern? Einen Geist besoffen machen?! Also so was!“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste nickte ergeben und seufzte aus Herzensgrund: „Aber zu irgendwas muss das Zeug doch gut sein.“

„Das musst du schon selbst wissen. Es war schließlich deine Idee.“

„Aber ihr habt doch gesagt, die Idee sei gut.“

„Ist sie doch auch.“

„Dann verratet mir mal, wie das gehen soll. Ihr wisst doch sonst immer alles.“

„Da irrst du aber“, brummte eine besonders mächtige Ahnenstimme, und ein Schatten erhob sich, der dem Vater des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten ziemlich genau glich. „Immerhin weißt du da mehr als wir alle zusammen.“

„Jawohl“, bestätigte eine andere Stimme, und ein Schatten erhob sich, der dem Großvater des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten glich. „Und mehr Mumm als wir alle zusammen hast du auch.“

„Aber Papa! Aber Opa!“ Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste räusperte sich, denn jetzt war er doch etwas verlegen. „Was redet ihr da? Ich stehe doch auf euren Schultern. Alles, was ich weiß, habe ich von euch. Und das bisschen Mut, das kommt doch auch von euch.“

„Papperlapapp!“ riefen da die Schatten im Chor. „Das ist doch Quatsch! Du lebst, das zählt. Was getan werden muss, kannst du wirklich nur selber tun. Du lebst! Das weißt du doch. Darin liegt deine Kraft. Das ist dein Mut.“

„Ja, ja, schon, weiß ich alles“, seufzte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Aber wie geht es weiter? Was soll ich tun? Das hätte ich gerne von euch erfahren. Ein winzig kleiner Tipp, ja?“

„Muss ich dir das schon wieder sagen?“ war da ein weiblicher Ahnenschatten mit einer etwas herrschsüchtigen Stimme zu vernehmen. „Fang einfach irgendwo an!“

Und wieder seufzte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Jawohl, Mama!“ sagte er ergeben. „Wenn du meinst. Aber ihr müsst mir trotzdem helfen.“

„Was meinst du denn, was wir hier tun?“ sagte die Stimme etwas gereizt. „Jetzt mach endlich!“

„Ich mach ja schon, Mama“, stöhnte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste.

Und die anderen Schatten flüsterten: „Keine Sorge, irgendwie deichseln wir die Sache.“

„Aber ja doch, ja“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste etwas entnervt. Dann kletterte er zum Eingang der Zauberhöhle hinaus, um diese unmögliche Monsterflasche noch einmal genau in Augenschein zu nehmen. Es war ruhiger da draußen. Und vielleicht kam ja von ihr eine Idee.

Sieben Tage und sieben Nächte ging er um sie herum. Ganz langsam. Es reichte gerade für eine Umkreisung, so riesig war alles geworden. Die Flasche. Und seine Sorgen. Er ging und er grübelte und er strich sich den Bart und leckte die Lippen.

„Trink doch einfach einen Schluck“, flüsterte eine Stimme neben ihm. Da hatte er die Runde gerade fertig und war wieder am Höhleneingang angekommen.

„Aber Opa!“ antwortete der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste leise. „Du weißt doch, dass ich Schnaps nicht mag. Und wenn Mama das hört.“

„Mama hat es schon gehört“, sagte eine andere Stimme mit Nachdruck. „Immerhin kann hier wenigstens einer sich beherrschen. Aber vielleicht solltest du dem alten Schluckspecht hier tatsächlich etwas überlassen. Er nervt uns alle mit seinem ganz unahnenhaften Durst.“

„Und warum sollte ich das tun?“

„Weil mir beim Trinken immer die besten Sachen eingefallen sind“, drängte der Großvater des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten. „Nun mach schon!“

„Im Suff, meinst du?“ antwortete der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Aber da hast du noch gelebt. Mehr oder weniger zumindest. – Soll ich denn wirklich, Mama?“

„Ja, mach halt. Vielleicht hat er ja wirklich so was wie eine brauchbare Idee.“

„Ja! Mach!“ rief der Großvaterahne eifrig. „Wenn sie’s schon erlaubt. Beeil dich! Nachher überlegt sie es sich wieder. Schnell! Her mit dem Zeug!“

Also zauberte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste einen Schöpfbecher, groß wie ein Haus, schöpfte mit einem weiteren Zauber eine Riesenportion Schnaps und goss diesen mit einem dritten Zauber auf die Erde.

Es wurde ein beachtlicher Teich. Der roch betörend. Und er wurde mit erstaunlich großer Geschwindigkeit immer kleiner.

„Da säuft mal wieder einer wie ein Loch“, brummte eine besonders mächtige Ahnenstimme.

Und die erste Stimme antwortete, mit ein wenig unklarer Aussprache, aber sonst voller Würde: „Mein Sohn, so spricht man nicht von seinem Vater! Aber gut ist das Zeug! Ach, wisst ihr noch – all die herrlichen Trankopfer neulich?“

„Wie sollten wir das vergessen? Du hast geschnarcht wie ein Sack in deinem Rausch.“

„Aber nicht doch, Kinder! Wann kommt man als armer Ahne schon einmal zu einem kleinen Schwips?“

„Ein kleiner Schwips? Stockbesoffen warst du!“

„Meine liebe Schwiegertochter!“ sagte der Großvaterahne des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten mit nachdrücklicher Würde. „Das war in der Tat ein ganz kleiner Schwips! Ich entsinne mich noch genau. An alles!“

„So? Woran denn zum Beispiel?“

„An jedes einzelne Wort. Und an die Gesichter. Ha – weißt du noch, wie blöde die geguckt hatten, als mein werter Enkel hier noch einen goldenen Stöpsel von ihnen wollte? Haha, war das ein Witz! Ich könnte mich noch heute totlachen darüber.“

„Du benimmst dich unmöglich!“ schalt die Mutterahnenstimme. „Man lacht nicht über einen Lebenden!“

Der Lebende aber hatte aufmerksam zugehört. Und jetzt klatschte er vor Freude in die Hände.

„Lass ihn!“ rief er. „Ich hab’s! Ich hab’s gefunden! Danke, Opa, vielen, vielen Dank! Und streitet euch nicht so blöd.“

„Werter Herr Enkel“, sagte da die Großvaterahnenstimme mit schwerer Zunge, denn der Teich war mittlerweile leer, „wir streiten nicht blöd. – Was hast du gütigerweise gefunden?“

„Ihr werdet schon sehen. Jetzt lasst mich mal nachdenken.“

Daraufhin murrten die Ahnen etwas. Aber sie zogen sich doch zurück. Natürlich nur, um den Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten nicht bei der Arbeit zu stören. Andererseits war der Großvaterahne ein wenig müde geworden. Sagte er.

Es war bestimmt besser, wenn er seinen Rausch nicht ausgerechnet auf der Schwelle zur Zauberhöhle ausschlafen würde.

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