Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Siebter Abschnitt

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Siebter Abschnitt
In dem der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste einen Plan entwickelt und was das Rattengift seines Uraltvorderen damit zu tun hat

Nachdem die Ahnen in der Zauberhöhle verschwunden waren, ging der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste vor der Flasche auf und ab und strich sich nachdenklich den Bart und leckte ab und zu die Lippen. Ihm war etwas eingefallen. Nur wusste er noch nicht genau, ob und wie es funktionieren würde.

Es war der Großvaterahne mit seinem Geschwätz, der ihn wieder an seine Forderung an die Abordnung erinnert hatte: »Ich brauche noch einen Kessel, in den dieses Monstrum hier hineinpasst. Und vor allem: Bringt mir einen großen, passenden, goldenen Stöpsel, besetzt mit den schönsten Diamanten und Edelsteinen der Welt, damit die Flasche ordentlich verschlossen werden kann.«

Eigentlich war es ein Scherz gewesen, aus der Laune des Augenblicks heraus. Aber wenn man es genauer bedachte – die Idee war gar nicht so dumm. War der böse Geist nicht ungemein habgierig geworden? Da lag seine schwache Stelle. Da ließ er sich bestimmt packen.

Aber wie?

Sieben mal sieben Tage und Nächte wanderte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste um die Flasche herum. Sein Bart begann schon dünn zu werden vom vielen Herumstreichen und Herumzupfen. Und seine Lippen waren rau und wund vom vielen Lecken. Dann hatte er einen Plan. Eine ungefähre Vorstellung jedenfalls. Es fehlten noch ein paar Sachen. Und ein paar Ideen. Die aber kamen mit der Arbeit. Hoffte er wenigstens.

Jetzt brauchte er wirklich eine Stärkung. Und weil nichts anderes da war, nahm er einen kräftigen Schluck Schnaps. Dann stieg er hinunter in die Zauberhöhle um die alten Zauberbücher zu durchsuchen.

Und um sich mit den Ahnen zu beraten.

„Du stinkst nach Schnaps!“ stellte die Mutterahne als erstes fest. „Fängst du jetzt auch mit der Sauferei an?“

„Wie kommst du denn darauf?“ antwortete der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste unschuldig. „Nur ein ganz winziger Schluck. Man merkt es ja kaum.“

„Ja, ja! So fängt es immer an.“ Die Mutterahne kam bei diesem Thema rasch in Fahrt. „Erst ein kleiner Schluck. Und dann noch einer. Und dann ein großer. Und dann säuft er eines Tages ganze Flaschen auf einen Sitz aus! Man kennt das ja!“

„Was du auch immer denkst, Mutter!“ rief der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Immer mit deinen Unterstellungen! Aber…“

Hier hielt er inne, horchte eine ganze Zeit in sich hinein und strahlte schließlich über das ganze Gesicht: „Aber ja – die ganze Flasche – das ist es!“

„Wie bitte?“ sagte die Mutterahne spitz. „Was ist was?“

„Die ganze Flasche aussaufen!“ rief der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste begeistert. „Genau das tun wir! Mutter, du bist Spitze!“

Da brach die Mutterahne in Tränen aus: „Jetzt hat es den auch erwischt! Womit habe ich das nur verdient?“

„Gar nichts hast du verdient!“ sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste zärtlich. „Aber manchmal bist du Gold wert. – Jetzt lasst mich arbeiten!“

Und während die Ahnen sich zurückzogen, griff er nach einem Stapel dicker Zauberbücher und begann aufgeregt darin zu blättern.

Er blätterte und blätterte. Dreißig Tage und Nächte. Fast ohne Pause.

Von Tag zu Tag aber verschlimmerte sich seine Laune. Denn was immer er auch suchte – es ließ sich einfach nicht finden. So war er denn auch ausgesprochen schlecht aufgelegt, als er am Ende des dreißigsten Tages die Ahnen wieder um sich versammelte.

„Wer war für die Zauberbücher verantwortlich?“ brüllte er. „Immer verschlampt ihr mir alles!“

Unter den Ahnen entstand empörtes Gemurmel. Sie fühlten sich völlig unschuldig. Immerhin waren die Zauberbücher von Generation zu Generation, von Vater zum Sohn immer getreulich weitergegeben und bewahrt worden. Was sollte jetzt das Geschrei? Waren sie nicht immer sorgsam und hilfreich gewesen? Ging man so mit seinen ehemals leiblichen Vorfahren um? Auch wenn man mittlerweile der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste von allen war?

Endlich trat der Schatten des Vaters des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten vor und seine Stimme zitterte vor verhaltenem Zorn: „Mein Sohn! Ehrfurcht vor den Ahnen!“ Im Hintergrund murmelten einige Ahnen empörten Beifall. „Wenn ich bitten darf! Ja? Was sollen wir verschlampt haben?“

„Einen Zauber, zum Kuckuck! Einen wichtigen Zauber. Nie kann ich die wichtigen Zauber finden in eurer Schlamperei! Es ist zum Auswachsen!“

„Ach, spiel dich doch nicht auf!« Das war der Großvaterahne. »So findest du gar nichts. Ist doch klar. Mir ist das auch öfter so gegangen. Trink erst mal einen Schluck. Das beruhigt. Weiß ich aus eigener Erfahrung.“

„Hör nicht auf ihn!“ fuhr die Mutterahne dazwischen. „Er spekuliert nur auf das Trankopfer. Überhaupt, was ist das für ein Zauber, den der Herr vermisst?“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste schaute sie lange an. Langsam beruhigte er sich. Schließlich lächelte er sogar ein wenig: „Der, mit dem man nicht mehr zaubern kann.“

Dann weidete er sich an ihrer Überraschung.

„Was will er?“ Unter den versammelten Ahnen löste das Unruhe aus. Einige lachten sogar.

„Einen Zauber gegen das Zaubern?“ – „Nicht mehr zaubern will er?“ – „Wozu das denn?“ – „Soll er doch froh sein, dass er's kann.“

„Eben! Warum will er denn nicht mehr zaubern?“ – „Was weiß ich? Vielleicht kommt das von zuviel Weisheit.“

„Oder vom Suff!“ – „Keine Anspielungen bitte! Ja?“ – „Ist doch wahr!“

„Nichts ist wahr. Er braucht einen Zauber, mit dem man nicht mehr zaubern kann. Wo ist der?“ – „Ja, wo ist der denn?“ – „Wer hat so einen Blödsinn überhaupt erfunden?“ – „Ja, wer denn?“

„Raus mit der Sprache!“ – „Her mit dem Kerl!“ – „Eine Schande ist das!“

„Wo steckt der Feigling? Melden soll er sich!“

So pflanzte sich das durch die Menge der Ahnen durch bis in den hintersten Winkel.

Da gab es an einem sehr weit entfernten Ort, der schon vor Urzeiten entstanden war, eine ganz besondere Unruhe. Wie eine Welle lief es durch die Versammlung. Ein sehr alter, sehr kleiner, sehr schmächtiger Schatten wurde nach vorne geschoben. So alt und fadenscheinig war er, dass man ihn kaum noch sah. Und seine Stimme war so schwach, dass sie schon im allerzärtesten Säuseln des Frühlingswindes untergegangen wäre.

„Der da will etwas von dem Zauber gegen das Zaubern wissen.“

„Wirklich?“ Der Schatten vor dem Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten flüsterte etwas. „Haltet doch mal eure Mäuler! Ich verstehe kein Wort.“

Die Ahnen schwiegen. Der Schatten flüsterte. Niemand verstand etwas.

Da gebot der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste den Tieren im Berg zu schweigen. Und die Tiere schwiegen im Berg.

Der Schatten flüsterte. Aber keiner konnte es richtig hören.

Da verbot der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste den Pflanzen im Berg das Wachsen. Und die Pflanzen wuchsen nicht mehr im Berg.

Und der Schatten flüsterte. Doch niemand hörte richtig und keiner verstand.

Da befahl der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste der Erde im Berg, still zu sein. Das war einer der mächtigsten Zauber auf der Welt. Und die Erde wurde still im Berg.

So zauberkräftig war der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste.

Der Schatten flüsterte. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste beugte sich tief zu ihm hinunter und lauschte angestrengt. Und da verstand er endlich.

„Bist du blöd?“

„Hä?“ Für einen Augenblick war der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste wie vor den Kopf geschlagen. Mit Mühe beherrschte er sich und flüsterte zurück: „Wieso?“

Der Schatten lächelte nachsichtig: „Du brauchst nicht zu flüstern. Ich bin noch stabil genug.“

Da brüllte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste, dass es im ganzen Berg widerhallte: „Wieso soll ich blöd sein?“

Es war so laut, dass sich die Ahnen duckten und doch sehr wunderten. Sie steckten die Köpfe zusammen und flüsterten untereinander: „Ob zuviel Weisheit blöd macht?“

Wütend brüllte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste in das Geflüster hinein: „Haltet mir ja eure Mäuler! Ich verstehe jedes einzelne Wort!“

Die Ahnen zischten empört. Mussten sie sich das bieten lassen? Von einem, der blöd war?

„Ruhe!“ donnerte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Bei eurem Krach hört man ja nichts.“

Dann bückte er sich zu dem uralten Schatten hinunter und flötete: „Verzeih! Du fandest, ich sei blöd. Wie das?“

„Nun ja“, flüsterte der Schatten fast unhörbar. „Was gibst du dir so viel Mühe, dass hier alles still wird? Mach doch meine Stimme lauter. So was Einfaches konnte sogar ich zu meiner Zeit. Und das ist nun wirklich lange her.“

„Wie? Lauter? Ach ja?“ Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste war etwas verwirrt. „Meinst du, das hilft?“

Da prusteten diejenigen Ahnen los, die ganz in der Nähe standen und mitgehört hatten. Ihr Lachen pflanzte sich fort durch die Heerschar. Schließlich brüllte alles im Berg vor Vergnügen.

Es wurde ein Naturereignis.

Draußen liefen die Menschen aus ihren Häusern, weil sie ein Erdbeben fürchteten. Doch die Erde lag ganz ruhig und unbeweglich unter ihren Füßen. Nur im Berg grollte und rollte es ungeheuer.

„Wer weiß, was der Alte da drin jetzt wieder ausheckt?“

Damit war der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste gemeint. Weil sie ihn aber liebten und weil er sich noch nie böse und gefährlich gezeigt hatte, kehrten sie wieder an ihre Arbeit zurück. Und es war, als wäre nichts gewesen.

Nicht einmal die Schnapsoberfläche in der Flasche hatte sich gekräuselt.

Im Berg aber beruhigten sich die Ahnen nach und nach und erklärten sich gegenseitig, warum sie gelacht hatten. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber nickte dem uralten Schatten zu, der etwas verschreckt mucksmäuschenstill in dem allgemeinen Lärm gestanden hatte: „Du hast recht. Ich bin wohl ziemlich blöd. Manchmal zumindest.“

Dann erlaubte er der Erde wieder, sich zu bewegen, und die Pflanzen durften wieder wachsen im Berg. Auch die Tiere brauchten nicht mehr zu schweigen. Und dann, als alles wieder recht war, zauberte er aus dem Handgelenk die Stimme des Uraltvorderen so laut und klar, dass man sie noch im letzten Winkel der Zauberhöhle deutlich verstehen konnte.

„Nun? Wer bist du eigentlich?“

Der Schatten straffte sich und wurde ein gutes Stück sichtbarer: „Ich bin dein Uraltvorderer. Es gibt nur noch wenige vor mir. Und viele ruhen auf mir. Bei mir war der Anfang. Die wichtigsten Zauber kommen von mir.“

Die anderen Ahnen murmelten ehrfürchtig. Es kam sehr selten vor, dass ein Uraltvorderer sich meldete.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber verneigte sich tief: „Verzeih, Uraltvorderer! Verzeih, wenn ich dich vorhin etwas grob angefasst habe. Ich hätte es besser wissen müssen.“

„Och, das macht nichts“, sagte der Uraltvordere. „Ich bin nicht zimperlich. Weißt du, ich habe einiges mitgemacht seinerzeit.“

„Und du hast einen Zauber geschaffen, mit dem man das Zaubern verliert?“

Da wurde der Uraltvordere etwas verlegen: „Nun ja, wie man's nimmt. Eigentlich war es Rattengift.“

„Wie bitte?“ Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste zog die Augenbrauen hoch. „Rattengift? Zum Zaubern abzaubern?“

Die Ahnen murmelten erstaunt. Einige waren sogar etwas empört. Das war allen neu.

„Eine Nebenwirkung“, flüsterte der Uraltvordere. „Ich kann es euch ja erklären.“

„Wenn ich bitten darf“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. Und die vorderen Ahnen rückten näher, um ja nichts zu verpassen.

„Also, das war so“, begann der Uraltvordere. „Da gab es einmal eine ganz fürchterliche Rattenplage.“

„Das kenne ich“, warf der Großvaterahne ein. „So etwas hat mich mal meinen ganzen Schnapsvorrat gekostet.“

„Wieso? Hast du sie besoffen gemacht?“

„Wie? Aber nein. Ich habe nur so lange gebraucht, bis ich das Rezept hatte.“

„Und? Hat es gewirkt?“

„Sicher. Es gab allerdings ein paar kleine Nebenwirkungen. Man konnte dort dreißig Jahre lang kein Korn mehr ernten. Aber die Ratten waren weg!“

„Seht ihr“, sagte der Uraltvordere. „So war das damals auch. Nur sehr viel schlimmer. Wenn ich die Biester hätte weghaben wollen – ich hätte ich sie entweder in Fledermäuse verzaubern oder mit Unmengen Gift umbringen müssen. Aber dann wäre die Gegend unbewohnbar gewesen.“

„Und? Was hast du gemacht? Einen besonderen Zauber?“

„Aber davon rede ich doch die ganze Zeit. Ich habe ein umweltfreundliches Rattengift erfunden.“

Unter den Ahnen entstand eine beachtliche Unruhe: „Umweltfreundliches Rattengift?“ – „Geht so was überhaupt?“– „Warum wissen wir da nichts von?“ – „Hat es denn nicht gewirkt?“

„Was war das für ein Zeug?“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste hatte Mühe, wieder Ruhe zu schaffen: „So lasst ihn doch! Opa, du gehst drei Schritte zurück! Opa! Hör auf, an ihm herumzuzupfen! Es ist eh zu spät für dich! Opa!!! Lass sofort los!“

Nur langsam legte sich die Aufregung.

„Also, Uraltvorderer? Was hat das alles mit dem Vergessen von Zaubern zu tun?“

„Nur Geduld!“ sagte der. „Es kommt schon noch.“ Dann wandte er sich an den Großvaterahnen: „Außerdem wird es dir gefallen.“

Der Großvaterahne räusperte sich ehrfurchtsvoll und schob sich unauffällig wieder einen Schritt näher. Wenn das so war, durfte er auf keinen Fall etwas verpassen.

„Also, ich hatte da einen riesigen Vorrat an Himbeeren. Die waren eigentlich für Himbeerwein gedacht. Das war damals etwas ganz Neues. Und ich mochte das Zeug ziemlich gern.“

An dieser Stelle nickte der Großvaterahne beifällig.

„Und da hatte ich mir gedacht, ob man daraus nicht vielleicht ein besonderes Lockmittel für Ratten machen könnte.“

Hier grunzte der Großvaterahne missbilligend.

„Ich habe also ein paar Kräutlein und Würzelchen drunter gemischt und einen Lockzauber drüber gesprochen. In Lockzaubern war ich ziemlich gut, müsst ihr wissen.“

„Und dann?“

„Ja, und dann habe ich das alles in Fässer gefüllt und auf alle Quellen und Flüsse der Gegend verteilt.“

„Und? Hat es gewirkt?“

„Ha! Die Ratten sind nur so geströmt. Alle wollten sie das Zeug saufen. Und wie sie gesoffen haben! Sie konnten gar nicht mehr aufhören. Jämmerlich ersoffen sind sie dabei. Der Fluss hat sie ins Meer gespült. Da sind sie abgesackt und ihre Knochen haben ein großes Riff gebildet.“

„Ein Riff?“

„Ja, ein Riff. So viele Biester waren das damals. Man hätte wirklich keine Fledermäuse aus ihnen machen können. Und mit Gift hätte ich mich für Jahrhunderte unmöglich gemacht.“

Der Großvaterahne wurde ungeduldig: „War das alles? Was soll einem an so was gefallen? Ein Rattenriff! Na und?“

„Gemach! Gemach! Es kommt ja alles noch.“ Der Uraltvordere löste sich vorsichtig aus der Faust des Großvaterahnenschattens. „Ich hatte noch ein paar Himbeeren übrig. Daraus hab ich mir einen herrlichen Schnaps gebrannt. – Das war übrigens auch eine Erfindung von mir. Hatte ich das schon erwähnt? Ohne zu zaubern! Einfach genial!“

Der Großvaterahne fand, dass der Uraltvordere sich doch sehr aufspielte. Er schwieg aber. Denn so eine Himbeerschnapsidee war andererseits auch nicht zu verachten.

Und der Uraltvordere fuhr fort: „Nun hatte ich von den Ratten her noch dieses gewaltige Fass. Da habe ich den Schnaps hineingefüllt. Leider war das ein Fehler.“

„Ein Fehler? Wieso das? Nun sag doch!“ Der Großvaterahne hielt es kaum mehr aus. Irgendwann musste der Uraltvordere doch zum Punkt kommen.

„Nun ja. Ich hatte vergessen das Fass vorher gründlich zu reinigen. Es müssen noch Reste von dem Rattengift drin gewesen sein.“

„Und? Und?“

„Also, wie ich den ersten Schluck genommen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich habe gesoffen und gesoffen, bis ich fast geplatzt bin. Das Fass wurde völlig leer. Und, ob ihr mir glaubt oder nicht, es war der herrlichste Rausch, den überhaupt jemand jemals auf dieser Erde gehabt hat.“

Jetzt war der Großvaterahne begeistert. Daneben aber war er auch sehr zornig. Was war ihm da alles entgangen!

„Und? Und? Gibt es das Rezept noch? So was hätte ich haben müssen! Warum wusste ich nichts davon? All diese Herrlichkeiten! Warum?“

Er rüttelte an dem Uraltvorderenschatten, dass dieser fast zerriss.

„Du hast das Rezept doch nicht etwa vernichtet?“

Der Uraltvordere hatte beträchtliche Mühe, sich zu befreien.

„Um ein Haar hätte ich es getan. Es gab da nämlich eine kleine Nebenwirkung.“

„Eine Nebenwirkung?“ Diesmal war es der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste selbst, der nach dem Schatten des Uraltvorderen griff. Weil aber der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste noch aus Fleisch und Blut war, glitt seine Hand einfach durch den Schatten hindurch. Wer weiß, was er sonst angerichtet hätte.

„War es das Zaubervergessen? Sag doch! Sag!“

„Ja, schon“, sagte der Uraltvordere und klang ein wenig bedrückt. „Als nämlich der Rausch vorbei war, konnte ich dreiunddreißig Jahre lang nicht mehr zaubern. Dreiunddreißig ganze Jahre! Das war vielleicht ein Schock! Alles, aber auch alles hab ich da probiert. Die besten Tränke, die feinsten Kräuter. Nichts! Es ging einfach nicht mehr. Auch nicht das allerkleinste, nicht das allereinfachste Zauberchen wollte mehr gelingen. Was glaubt ihr, wie fertig ich da war!«

„Und? Was ist dann mit dem Rezept passiert?“ Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste ließ nicht locker. „Irgendwo musst du es doch aufgeschrieben haben. Sonst könnte ich mich doch nicht daran erinnern. Wo steht es? Wo?“

„Da fragst du mich zuviel. Ich jedenfalls bin damals dreiunddreißig Jahre in die Wüste gegangen und habe von Heuschrecken gelebt. Was meint ihr, wie ich abgemagert bin. Nichts war da mit Zaubern, einfach gar nichts. Aber dann plötzlich, nach dreiunddreißig Jahren –alles wieder da! Einfach so. Puff! Mann, war ich froh! Ich bin dann auch gleich raus aus der Wüste und habe das Rezept aufgeschrieben. Mit einer deutlichen Warnung! Damit so etwas niemandem niemals nicht mehr passieren würde!“

Der Uraltvordere holte tief Luft. Dann setzte er noch glücklich lächelnd hinzu: „Aber dieser Rausch damals! Dieser Rausch! Einfach göttlich!“

Ein wilder Aufschrei schnitt ihm da das Wort ab: „Saufköpfe! Unglaublich! Seit Urzeiten im Suff! Ich sag’s ja!“

Die Mutterahne konnte sich erst jetzt wieder richtig durchsetzen. Sie war in dem Gedränge, als der Uraltvordere nach vorne geholt wurde, in einer Gegenbewegung ganz nach hinten geraten. Die ganze Zeit hatte sie schwer gearbeitet, um wieder nach vorne zu kommen. „Du willst doch nicht etwa das Teufelszeug von dem Kerl da brauen, Sohn?“

„Aber ja doch. Das ist genau das, was ich jetzt brauche.“

Hätte sie stampfen können, sie hätte das getan. Da sie aber nur ein Schatten war, schwebte sie lediglich sehr empört ruckartig auf und ab.

„Nein! Ich verbiete das! Du bist mein Sohn! Hörst du? Und wenn du hundertmal der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste bist! Du rührst das Zeug nicht an! Auf keinen Fall! Hörst du! Niemals!“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste hörte dem Ausbruch lächelnd zu. Erst als sie, nach beachtlich langer Zeit übrigens, endlich einmal eine Pause machte, vielleicht um einen besonders kräftigen Ausdruck zu finden, nutzte er die Gelegenheit und rief mit starker Stimme: „Aber Mama! Keinen Tropfen werde ich trinken. Ich trinke nie! Niemand hier kriegt da etwas von.“

„Keinen Tropfen?“ erklang es da im Duett. Die eine Stimme sehr ungläubig: Das war die Mutterahne. Die andere sehr enttäuscht: Das war der Schatten des Großvaterahnen.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber lächelte weiter: „Natürlich bekommt das keiner. Auch du nicht, Opa! Das Zeug ist für einen ganz anderen bestimmt. Habt ihr das denn noch nicht begriffen?“

Und endlich erläuterte er den versammelten Ahnen seinen Plan.

Man musste den Geist dazu zu bringen, eine ganze berggroße Flasche voller Rattengiftschnaps auf einen Sitz auszusaufen. Dann sollte es eigentlich möglich sein, den Geist in eben dieser Flasche einzusperren. Vorausgesetzt, seine Zauberkraft würde dabei gelähmt. Denn wenn sich der Geist nur lange genug nicht wehren konnte, musste es möglich sein, die Flasche mit den kräftigsten Zaubern der Welt so fest zu verschließen, dass er bis zum Ende der Zeiten nicht mehr aus ihr herauskam.

„Einen Flaschengeist willst du machen?“ Der Schatten des Vaterahnen leuchtete auf. „Mein Sohn – wenn das so ist – wir werden dir helfen, was immer unsere Zauberkraft hergibt. Das schwören wir!“

„Jawohl! Das schwören wir!“ wiederholten alle Ahnen sehr feierlich.

Lediglich der Großvaterahne fügte leise und bitter hinzu: „Nur schade um den vielen schönen Schnaps.“

Aber das hörte keiner mehr.

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