Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Achter Abschnitt

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Achter Abschnitt
In dem sich ein Vers wiederfindet und was Himbeeren mit Heldentaten zu tun haben

„Aber das Rezept? Wo ist bloß das Rezept geblieben?“ drängte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Irgendwo muss es doch stecken. Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern?“

„Oh doch!“ erwiderte der Uraltvordere. „Natürlich erinnere ich mich. Als ob es gestern gewesen wäre. Die Warnung habe ich in einen Vers gekleidet:

Wenn du nur einen Tropfen trinkst,
wird drei-und-dreißig Jahre dich
ein jeder Zauber meiden.

Das war mein schönstes Gedicht“, fügte er noch stolz hinzu.

„Ein jeder Zauber meiden!“ rief der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste erfreut. „Endlich! Das ist es!“

„Jawohl!“ bekräftigte die Mutterahne. „Nur ein Tropfen und dreiunddreißig Jahre kein Zauber mehr! So sei es! Man sollte das in die Grund-, Haupt- und Zwangszauber aufnehmen.“

„Du irrst, liebe Schwiegertochter“, sagte der Großvaterahne sanft. „Das geht nicht.“

„Wieso geht das nicht? Ich finde, es ist ein sehr guter Zauber. Keinen Tropfen! Sehr, sehr gut ist das.“

„Aber das gilt doch nur für Rattengift.“

„Für umweltfreundliches Rattengift!“ warf der Uraltvordere ein. „Außerdem ist es eine Warnung und kein Zauber.“

„Siehst du!“ trumpfte der Großvaterahne auf. „Es geht nicht.“

„Dann muss man das ändern. Sofort! Hörst du, Sohn? Du wirst sofort einen Zauber daraus machen! Einen selbstwirkenden Zauber! Einen Fluch! Nieder mit dem Schnaps! Nieder mit allen Säufern! Und ganz besonders mit dem da.“

„Tut mir Leid, Mama! Das werde ich nicht tun“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste mit Nachdruck. „Und du lässt sofort deine Schwiegertochter los, Opa! Gehört sich das für einen Ahnen? So kommen wir doch nicht weiter. Es gibt wahrhaft wichtigeres zu tun.“

„Sag ich doch die ganze Zeit“, brummte der Großvaterahne. „Aber die da, die hat ja schon zu Lebzeiten immer an mir rumgenörgelt. Außerdem ist das Rezept futsch. Mit diesem blöden Spruch da finden wir das nie.“

„Der Spruch ist nicht blöde!“ begehrte der Uraltvordere auf und seine Stimme wurde überraschend kräftig und klar. „Außerdem erinnere ich mich durchaus an Einzelheiten.“

„Ja? Was für Einzelheiten?“

„Also da waren die Ratten und die Flüsse, in denen sie ersoffen sind, und siebenhundert Körbe Himbeeren...“

»Himbeeren? Das waren Himbeeren? Siebenhundert Körbe Himbeeren?« In der Mitte der Ahnenschar entstand Tumult. »So lasst mich doch mal durch! Himbeeren! Platz da! Herrschaftszeiten! Das gibt es doch gar nicht! Himbeeren hat er gesagt! Durchlassen, sag ich! Durchlassen!«

Nach einiger Zeit erschien ein kräftiger, jetzt aber ziemlich abgekämpfter Ahnenschatten vor dem Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten und seinem Uraltvorderen.

„Himbeeren? Mit einem Himmelszeichen und einem Bärenkopf? Hast du das geschrieben?“

„Aber nicht doch!“ wehrte sich der Uraltvordere. „Ich habe eine Beere gezeichnet und das Himmelszeichen dazugesetzt. Damit es ja niemand mit sonst welchen Beeren verwechselt. Mit anderen Beeren funktioniert es nämlich nicht.“

Der kräftige Ahnenschatten griff sich an den Kopf. „Himbeeren!“ stöhnte er. „Eine Sauklaue hat der Kerl! Ich habe das für einen Bärenkopf gehalten.“

Jetzt war der Uraltvordere beleidigt: „So? Na dann Verzeihung! Schreiben ist nun mal nicht meine Stärke. Immerhin war das neu zu meiner Zeit.“ Damit kehrte er dem kräftigen Schatten den Rücken und brummte vor sich hin: „Sauklaue! So was! Und das mir!“

Der kräftige Schatten blieb unbeeindruckt: „Siebenhundert Körbe Himbeeren – wie hast du ‚Körbe’ geschrieben“

Der Uraltvordere dachte nach: „Ich weiß nicht mehr genau. Einen Korb, glaube ich, und einen Pfeil. Damit man sieht, dass die Himbeeren da in den Körben drin waren.“

„Einen Pfeil? Oh, ihr Götter! Einen Pfeil! Weißt du, was ich gelesen habe? Einen Blitz und eine Grube. Das ist das Zeichen für ‚abgrundtief böse’, versteht ihr?“

„Also, ich verstehe überhaupt nichts“, mischte sich der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste ein. „Würdet ihr mich bitte aufklären, wovon ihr eigentlich redet?“

Der kräftige Schatten verneigte sich: „Verzeih, Allerweisester! Ich bin nur ein kleines Glied in der Kette deiner Ahnen. Aber es scheint, die Schuld an dem Versehen liegt bei mir – und bei dem da, der nicht richtig schreiben kann.“

„He! He, he! Ich konnte gut genug schreiben für meine Zeit. Kann ich wissen, was ihr euch an Spitzfindigkeiten einfallen lasst? Zu meiner Zeit hat man noch jeden Spruch, jedes Rezept im Kopf gehabt, jawohl. Da brauchte man die Bildchenpinselei überhaupt nicht. – Einen Gefallen hab ich euch tun wollen. Jawohl. Das hat man nun davon. Nicht richtig schreiben! Ich! Ha! Nicht lesen könnt ihr. – Abgrundtief böse! Wo hat man so was schon gehört? Das war ein Korb mit was drin und das ist ein Korb mit was drin und das bleibt ein Korb mit was drin. – Und außerdem sage ich kein Wort mehr, wenn man mich hier beleidigt. Jawohl!“

Damit drehte sich der Uraltvordere um und wollte gehen. Der kräftige Schatten aber warf sich ihm vor die Füße und verneigte sich wieder und wieder.

„Verzeih, Uraltvorderer! Verzeih! Es war nicht böse gemeint. Ich wollte dich nicht beleidigen, wirklich nicht. Es ist nur so – ich hatte solch eine Mühe damit.“

„Eine Mühe? Womit?“ Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste hielt es an der Zeit, einzugreifen. „Würdet ihr mir wohl endlich erklären, was hier los ist. Und welche Schuld an welchem Versehen wer hat? Nun red schon!“

Der kräftige Schatten rappelte sich auf und klopfte einige unsichtbare Staubkörner ab.

„Die Sache ist so. Zu meiner Zeit waren die überkommenen Zauberbücher in einem unmöglichen Zustand und fast unlesbar geworden. Man konnte kaum noch etwas mit ihnen anfangen. Alles stand durcheinander. Zaubersprüche, Rezepte, Heldensagen, einfach alles. Viele Abschnitte ließen sich nicht mehr entziffern und ganze Teile fehlten völlig. Dazu war das meiste in einer Bilderschrift abgefasst, die kaum einer mehr lesen konnte. Es war an der Zeit, alles Überkommene neu zu sammeln, zu übersetzen, zu ordnen und sorgfältig neu zu schreiben. Damit unsere Erben auch noch etwas haben würden von der Erfahrung der Alten.“

Er verneigte sich tief vor dem Uraltvorderen.

„Es ging nun mal nicht anders. Zuviel war im Lauf der Zeit zusammen gekommen. Man konnte wirklich nicht mehr alles im Kopf behalten. Den alten Universalzauberer gab es schon lange nicht mehr. Man hatte sich spezialisiert, es gab Zauberer, Weise, Kräuterkundige und was weiß ich noch alles. Ich jedenfalls hatte mich darangemacht, alles neu zu fassen um es getreulich zu überliefern.“

„Das ist ja sehr verdienstvoll“, warf der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste ein. „Aber was hat das mit ihm zu tun? Und mit dem Rezept, das wir alle suchen?“

Der kräftige Schatten verneigte sich wieder bis zum Boden. Diesmal vor dem Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten. So etwas war wohl üblich gewesen zu seiner Zeit.

„Ja, sein Text! An den erinnere ich mich noch genau. Was hat er mir zu schaffen gemacht. Die Schrift war verwischt. Das Papier hatte Löcher. Es ergab einfach keinen Sinn. Nur sein Vers war noch einigermaßen lesbar. Und dann standen da die abgrundtief bösen Himmelsbären. Niemand wusste davon.“

„Das waren keine Himmelsbären. Himbeeren! Siebenhundert Körbe Himbeeren! Mein ganzer Weinvorrat. Himmelsbären! So was gibt es doch gar nicht.“

Der kräftige Schatten verneigte sich erneut. Diesmal allerdings deutlich weniger.

„Jetzt weiß ich das auch. Damals aber hat es mir Rätsel aufgegeben. Der Text gehörte immerhin zu den allerältesten Überlieferungen. Dort stehen oft die wichtigsten Weisheiten drin ...“

„Jawohl!“ warf der Uraltvordere entschieden ein.

„... die unbedingt bewahrt werden müssen ...“

»Genau!« sagte der Uraltvordere sehr betont.

Der kräftige Schatten nickte nur kurz zu ihm hinüber: „Verzeih! Es wäre einfacher, wenn du mich nicht ständig unterbrechen würdest. Sonst komme ich aus dem Konzept.“

Der Uraltvordere brummte etwas und kehrte ihm wieder den Rücken.

„Nach langem Überlegen und vielen Beratungen mit den Ahnen kamen wir zu der Überzeugung, dass es sich hier um eine verschollene Heldentat handeln musste. Ich habe den Text also leicht bearbeitet und unter die großen Taten der Väter gestellt. Es ist das hohe Lied von der Vertreibung der siebenhundert abgrundtief bösen Himmelsbären und ihrem Ende in den Fluten der Erde.“

„Beratungen!“ knurrte der Uraltvordere ohne sich umzuwenden. „Ahnen! Mich hat keiner gefragt.“

„Aber der Vers?“ hakte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste nach. „Diese Zeilen:

Wenn du nur einen Tropfen trinkst,
wird drei-und-dreißig Jahre dich
ein jeder Zauber meiden.

Hat euch denn der nicht stutzig gemacht?“

„Aber nein! Im Gegenteil! Gerade der hat uns ja überzeugt. Es ist doch offensichtlich eine Belohnung: Der Held hat seine Tat vollbracht und erhält einen Trank, der ihn auf dreiunddreißig Jahre unangreifbar durch welchen Zauber auch immer macht. Das war doch unbestreitbar klar.“

„Oh, ihr Götter!“ stöhnte der Uraltvordere.

„Oh, ihr Götter!“ rief der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Und ich habe immer unter den Zaubern gesucht.“

Dann neigte er sich zu dem Uraltvorderen hinunter.

„Verzeih ihm!“ bat er. „Er war so sorgfältig, wie er nur konnte. Und immerhin ist deine Leistung auf diese Weise ja auf uns gekommen. Wenn auch in etwas veränderter Form. Aber wenn wir das Rezept wieder finden, dann bekommt es einen Platz unter den ganz großen Zaubern. Niemand wird es mehr vergessen. Das verspreche ich dir.“

„Wirklich?“ Der Uraltvordere drehte sich um und strahlte. „Und du schreibst dazu, dass es umweltfreundliches Rattengift ist?“

„Umweltfreundliches Rattengift und noch viel mehr. Wir werden mit ihm schließlich einen bösen Geist bannen.“

„Ach ja“, sagte der Uraltvordere und wurde wieder ernst. „Das hatte ich jetzt ganz vergessen.“

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