Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Neunter Abschnitt

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Neunter Abschnitt
In dem ein goldener Stöpsel Weltruf erlangt und der Geist immer begehrlicher wird

Für den Anfang war das Wichtigste geklärt. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste zauberte die Heldenlieder herbei. Dort fand sich der Spruch mit einem passenden Nachschlagezauber im Nu. Kein Blättern, kein Suchen. Es ging fast wie von selbst.

Der Text war überraschend vollständig. Ein wenig Hilfe des Uraltvorderen nur, schon war das Rezept für das umweltfreundliche Rattengift wieder hergestellt. Wie er gesagt hatte: Im Wesentlichen brauchte man viele Himbeeren, Kräuterchen, Würzelchen und natürlich den passenden Lockzauber.

Der aber wollte dem Uraltvorderen einfach nicht mehr einfallen, was ihn sehr bedrückte.

„Lockzauber waren doch meine Spezialität!“ klagte er. „Wieso will das nicht?“

Er schämte sich so über seine Schwäche, dass er noch gutes Stück fadenscheiniger wurde. Erst eine Liste mit allen überhaupt je erfundenen Lockzaubern in schönster Bilderschrift vermochte ihn zu trösten.

In ihr fand er seinen Rattengiftzauber doch noch. Nebenbei, beim ziellosen Blättern. Aber unter einem ganz und gar falschen Namen.

Dadurch geriet er völlig außer Fassung, schrie und tobte und verlangte Gerechtigkeit, hier und jetzt. Erst als man mit vereinten magischer Kräften festgelegt hatte, dass das umweltfreundliche Rattengift für alle Zeit ausschließlich nach ihm, dem Uraltvorderen, benannt werden konnte, zog er mit der dicken Lockzauberliste unter dem Arm zufrieden und glücklich zurück ganz an den Anfang der Ahnenreihe, um dort in aller Ruhe mehr und mehr zu verblassen.

Doch bevor er ging, gab er dem Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten noch einen wichtigen Rat: „Seid ja vorsichtig mit der Dosierung! Wenn ihr zuviel von dem Zeug reintut, kommen die Ratten der ganzen Welt und saufen alles weg.“

„Schon recht“, meinte der Großvaterahne und beschloss, insgeheim etwas von dem Gift auf die Seite zu schaffen. Vielleicht ließ sich das ja irgendwann für eine größere Menge Trankopfer einsetzen, von der Möglichkeit des Dauersaufens mit nachfolgenden göttlichen Räuschen einmal ganz abgesehen. Die Nebenwirkung konnte er verschmerzen, am Zaubern lag ihm schon lange nichts mehr.

Allmählich nahm die Sache Gestalt an. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste braute aus vielen, vielen Himbeeren, Kräuterchen, Würzelchen und dem wieder gefundenen Lockzauber das umweltfreundliche Rattengift des Uraltvorderen. Einen Tropfen davon gab er in die berggroße Flasche. Für einen ersten Versuch musste das reichen.

Die Ratten im Berg aber wurden da sehr unruhig.

Eine deutliche Warnung: Die Flasche musste ab jetzt gut verschlossen bleiben. Also zauberte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste einen goldenen Stöpsel, riesig wie das Königsschloss auf dem Berg und über und über bedeckt mit den größten und funkelndsten Edelsteinen, die die Welt je gesehen hatte. Ganz obenauf aber steckte ein gewaltiger Turm aus kunstvoll geschliffenem Diamant. Der diente als Griff.

Nie wieder hat die Welt solch eine Pracht erlebt.

Von allen Seiten pilgerten die Menschen zu dem Schmuckstück. Noch nach vielen Jahrhunderten wurde es in feierlichen Gesängen als eines der allergrößten Wunder aller Zeiten gepriesen.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste gewährte den Menschen ein paar Jahrzehnte für dieses Glück. Er konnte warten. Damals wurden Magier noch sehr, sehr alt.

Vorsichtshalber jedoch belegte er den goldenen Stöpsel mit den mächtigsten Zaubern gegen Diebstahl. Denn in dem Maße, wie sich sein Ruf in aller Welt verbreitete, wuchs unter den Menschen die Begehrlichkeit. Vom gemeinen Strauchdieb bis zum staatlich geprüften Meisterdieb in hoher verbeamteter Stellung – alles Diebsgesindel wollte nichts sehnlicher als diesen einen goldenen Stöpsel. Oder doch zumindest ein Stück des Griffdiamanten oben drauf.

Doch da war nichts zu machen. Nicht ein Spänchen wurde jemals gestohlen. Nicht mit Tricks und nicht mit Anschlägen, nicht mit List und nicht mit roher Gewalt war dem Stöpsel beizukommen.

Sein Ruf aber verbreitete sich in gewissen Kreisen so sehr, dass man außerordentlich hohe Preise für denjenigen aussetzte, der ein Stück vom Stöpsel ergattern könnte, und wäre es auch noch so klein.

Keinem wollte das gelingen. Nicht einmal die Steuereintreiber des Königs hatten Glück. Und das will nun wirklich etwas heißen.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste beobachtete das Geschehen in aller Ruhe. Jedes Jahr, mit dem sich der Ruf des goldenen Stöpsels in alle Ecken und Enden der Welt verbreitete, jeder Tag brachte ihn seinem Ziel näher.

Seine Überlegung war einfach: Mit den Begehrlichkeiten der Menschen würde auch die Gier des bösen Geistes nach dem goldenen Stöpsel wachsen. Bis er nur noch eines würde denken können:

„Stöpsel! Stöpsel! Stöpsel!“

Genau darauf kam es ihm an.

Jahr um Jahr verging, Jahr um Jahr drang der Ruf des goldenen Stöpsels tiefer in die Welt. Und Jahr um Jahr gab der böse Geist Ruhe im Land, so dass die Ältesten und Weisen wieder und wieder betonten: „Seht ihr, die Sache mit dem Schnaps hat sich gelohnt. Er hat uns schon geholfen, der Allerweiseste.“

Die Ahnen aber, die diesem Betonen unsichtbar beiwohnten, schüttelten bedenklich die Köpfe. Das kannten sie aus ihren eigenen Leben: Immer wieder mal gab es ein paar Jahre, ein paar Jahrzehnte, ein paar Jahrhunderte lang Ruhe. Dafür brach das Unheil anschließend umso verheerender wieder los.

Solchem Frieden trauten sie nicht, nein. Nicht bevor ihnen der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste ausdrücklich bestätigte, das Unheil sei gebrochen. Ja, manche trauten selbst dem Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten nicht über den Weg.

Wegen der Riesenmenge Schnaps zum einen.

Und wegen etwas anderem noch weitaus mehr.

„Ein böser Verschwender ist er geworden“, flüsterten sie, seit ihnen die Sache mit dem goldenen Stöpsel zu Ohren gekommen war. „Ob er überhaupt noch an uns denkt?“

Ähnlich dachten nicht wenige der Ältesten und Weisen im Rat. Doch laut sagten sie das nicht. War doch im Augenblick tatsächlich Ruhe und Frieden im Land eingekehrt. Da wollten sie nicht als neidische, stöpselgierige Säufer verschrien werden.

Sicher waren sie alle nicht. Mit Recht, denn der Geist dachte gar nicht daran, seine mächtigen Bosheiten aufzugeben. Eine Pause hatte er eingelegt. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den goldenen Stöpsel in seinen Besitz zu bringen.

Das war nicht einfach. Selbst für den mächtigsten, brutalsten, bösesten Geist aller Zeiten nicht.

Was ihm auch einfiel, alles scheiterte. Gleich ob er als Regen und Sturm kam oder als Heerschar von Räubern. Einmal versuchte er es gar als schöne Frau, die den Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten heftig umgarnte. Der wiederum ließ sich mit Vergnügen umgarnen, nach allen Regeln der Kunst, nur – an den Stöpsel kam sie nicht heran.

Es ging so weit, dass der Geist sich den goldenen Stöpsel mit all seiner Kraft herbeiwünschte. So etwas hatte er schon sehr lange nicht mehr getan.

Nicht einmal das funktionierte, durch derart kräftige Zauber war die Flasche geschützt. Selbst dieser so mächtige Geist kam und kam nicht an sie dran.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste sah dem geduldig zu. Er spürte, wie der Geist unruhiger wurde und unruhiger und sich schließlich nichts so sehnlich wünschte wie diesen einen goldenen Stöpsel:

„Stöpsel! Stöpsel! Stöpsel!“

Nichts anderes hatte mehr Raum in ihm.

Und da, als dieser Wunsch den Geist vollständig ausfüllte, fand der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste endlich, nunmehr sei es an der Zeit.

„Jetzt kann er nicht mehr richtig denken“, erklärte er den versammelten Ahnen. „Jetzt kriegen wir ihn.“

„So sei es!“ stellte die Mutterahne da nachdrücklich fest. „Hauptsache, der Schnaps kommt weg.“

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