Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Zehnter Abschnitt

Zurück Zurück zur Willkommensseite Nach unten

---

Beachten Sie bitte das Copyright
© Bernd Pol 1994, Alle Rechte vorbehalten
PDF-Datei für diesen Abschnitt laden

---

Zehnter Abschnitt
In dem der Geist sich in verschiedener Gestalt an dem Schnaps versucht und endlich doch in die Flasche gerät

Jetzt war endlich die Zeit für einen ernsthaften Versuch gekommen. Ausrufer reisten in allen Ecken und Enden der Welt, wo sie folgendes verkündeten:

An Alle! An Alle! An Alle!

Der große goldene Stöpsel ist zu haben!

Derjenige soll den goldenen Stöpsel erhalten,
der in der Lage ist, die große Flasche
auf einen Zug auszusaufen.

(Dann wird er
nämlich nicht mehr
gebraucht.)

Alle Kandidaten werden gebeten,
sich beim Allerweisesten
am Höhleneingang
zu melden.

Sie erhalten dort genauen Bescheid.

Machte das ein Aufsehen! Das Ziel so vieler Wünsche und Begierden schien plötzlich zum Greifen nahe. Ganze Völkerscharen machten sich auf den Weg. Doch wer auch immer zu dem berggroßen Flaschenmonstrum kam, wurde umgehend eines Besseren belehrt. Für einen normalen Sterblichen war so eine Menge einfach unbewältigbar.

Einige versuchten es trotzdem, kamen aber über ein paar Eimer von dem Zeug nicht hinaus. Dann waren sie bis zum Platzen voll und mussten mit Gewalt weggetragen werden. Denn auch ihr Saufen wollte und wollte nicht enden. Diesen Zweck erfüllte der eine Tropfen umweltfreundliches Rattengift ganz ohne Frage.

Ein Tropfen auf eine so riesige Flasche!

Nicht wenige probierten es in der Folge auch nur des Saufens halber und waren anschließend so voll wie ihrer Lebtag nicht mehr. Von all den herrlichen Räuschen, die sich daran anschlossen, kündeten über Jahrhunderte wunderbare, nicht enden wollende Trinklieder.

Dem Großvaterahnen war so was nur recht. Er lungerte bei der Flasche herum und schnappte sich jedes Trankopfer, das er nur kriegen konnte. Damit machte er sich allerhand Ärger. Nicht nur bei der Mutterahne, die wie ein Luchs auf der Lauer lag. Auch andere Ahnen hatten einen durchaus kräftigen Durst.

Im Laufe der Zeit ließ der Ansturm dann aber nach. Der Aufwand lohnte sich nun einmal nicht. Immer mehr sahen das ein. Sie kamen höchstens zum Schauen und Staunen und vielleicht, ganz vielleicht ein klein winzig bisschen zum sinnlosen Saufen.

Doch selbst das hielten die meisten nicht durch.

Die Flasche war so gewaltig, dass alles menschliche Bemühen gerade mal den Rand trocken legte. Selbst eine riesige, im Verein saufende Bande konnte den Pegel nicht wesentlich senken. Dafür waren die Gauner anschließend stockvoll und konnten problemlos zusammengesammelt und hinter Gitter gesperrt werden.

So wirkte der Schnaps in der berggroßen Flasche sogar segensreich für ganze Landstriche. Die Menschen dort konnten viele Jahre fast ohne Verbrechen ihren Geschäften nachgehen.

Natürlich hätten nicht nur Menschen den großen goldenen Stöpsel gerne für sich gehabt. Am Höhleneingang meldeten sich beim Allerweisesten auch allerhand Gespenster, Monster und sonstiges Ungetier. Es war alles vertreten, was es damals noch auf der Erde gab, vom trinkstarken Zwerg bis zum turmgroßen Steinriesen, vom Blut saugenden Vampir über verschiedene Sorten von Drachen bis hin zum sagenhaften Weißnichtwas.

Das zumindest hatte bis dahin noch nie jemand zu Gesicht bekommen. Und es legte einen wirklich gewaltigen Zug an den Tag!

Doch alle, alle scheiterten.

Das Weißnichtwas platzte sogar auf und musste disqualifiziert werden. Bei ihm floss der Schnaps nämlich durch die Hülle hindurch gleich wieder in die Flasche zurück.

Der Großvaterahne fand das unappetitlich: „Wer weiß, was in so einem Weißnichtwas alles drin ist. Pfui Deibel!“

„Dann lass doch die Finger davon“, befand die Mutterahne. „Der viele Schnaps bekommt dir eh nicht. Du bleichst ja schon aus.“

Ab da war der Großvaterahne gerade aus Trotz noch mehr hinter jedem Trankopfer her.

Menschen und Monster kamen und gingen. Keinem gelang der entscheidende Trunk. Da machte sich eines Tages auch der mächtige böse Geist auf den Weg. Er hatte sich gut vorbereitet und vor allem das Saufen so lange trainiert, bis er sich der Aufgabe ausreichend gewachsen fühlte.

Um nicht aufzufallen, nahm er die Gestalt eines riesigen Drachens an und flog schwerfällig zur Höhle des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten. Der erkannte ihn trotzdem sofort und flüsterte den ihn umringenden Ahnen zu:

„Das ist er. Nun wollen wir mal sehen.“

Endlich! Alle fanden das gut. Nur der Großvaterahnen hielt die Luft an, als der Drache auf den Rand der Flasche flog und damit begann, den Schnaps in einem riesigen Zug in sich hineinzusaugen.

„Oh, ihr Götter!“ stöhnte der Großvaterahne aus Herzensgrund. „ Helft doch! Helft! Der schöne, schöne Schnaps!“

Und siehe, die Götter halfen noch mal.

Vor lauter Gier nach dem Stöpsel hatte der Geist nämlich beim Saufen vergessen, in seinem Dracheninnern erst das Feuer zu löschen. Das wirkte sich für ihn verhängnisvoll aus. Denn der Schnaps war wirklich vom Allerfeinsten. Gut war er. Sehr gut. Vor allem aber stark. Überaus hochprozentig stark.

Es kam, wie es kommen musste.

Der erste Schwall Schnaps genügte. Sofort brannte das riesige Vieh mit gewaltiger, blauer Flamme lichterloh. War das ein Feuer! Ganz anders, als es Drachen sonst in sich tragen. Es brannte und brannte und brannte und ließ sich nicht löschen, bis nach drei Tagen der Drache endlich restlos verzehrt war. Lediglich ein riesiger Haufen stinkender Asche blieb übrig. Die trug der Wind weit aufs Meer hinaus. Dort aber, wo die Drachenasche im Wasser versank, sind bis auf den heutigen Tag keine Fische zu finden.

Der Großvaterahne rannte derweil auf und ab und schrie Zeter und Mordio. Denn das Rattengift wirkte auch in dem brennenden Drachen. Die ganze Zeit soff der unentwegt weiter. So hatte natürlich auch der Schnaps in der Flasche Feuer gefangen.

„So helft doch!“ brüllte der Großvaterahne. „Löscht! Löscht! Oh, ihr Götter! Der schöne, schöne Schnaps! Es brennt uns ja noch alles weg!“

Er rannte und rannte und schrie, bis ihn die Mutterahne mit einigen kräftigen anderen Ahnen einfing und in den letzten Winkel der Zauberhöhle sperrte. So konnte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste in aller Ruhe den goldenen Stöpsel wieder auf die Flasche zaubern und damit die Flammen ersticken.

Erstaunlicherweise war gar nicht so viel verloren gegangen. Gerade die Menge, die in die erste, baumgroße Flasche passte. Mit ihr füllte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste das Verlorene nach. So war es doch ganz gut, dass damals die Alten und Weisen diese Flasche nicht wieder mit nach Hause genommen hatten.

Und der Geist?

Wie viele Drachen waren schon gestorben, in denen er gesessen hatte! Auch dieses Feuer konnte ihm letztlich nichts schaden. Lediglich seine Hülle hatte er mal wieder verloren. Unsichtbar und verärgert über seine Nachlässigkeit flog er wieder nach Hause.

Dort fühlte er sich etwas benommen.

Das schob er auf den Schreck. Und den Schnaps. Nebenwirkungen halt.

Nebenwirkungen! Gut, dass er nicht wusste, wie recht er damit hatte.

Viel Zauber verlor er aber nicht. Er brauchte nur ein ganz klein wenig Ruhe. Gerade mal zum Überlegen: Wie kam er nur an den goldenen Stöpsel? Denn seine Gier war nur noch größer geworden. Ihn dürstete danach. Wie nach dem Schnaps.

Der Rattenlockzauber! Noch eine Nebenwirkung.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste hatte alles genau beobachtet. Und weil er sah, dass die zaubervergessende Wirkung des umweltfreundlichen Rattengifts bei weitem noch nicht reichte, gab er der Flasche drei weitere Tropfen hinzu. Das verursachte eine gewisse Unruhe unter den Ratten der Gegend. Doch die legte sich nach und nach wieder.

Der Großvaterahne aber wachte vor der Flasche und zitterte um seinen Schnaps. Denn er wusste, dass der Geist nicht lange auf sich warten lassen würde.

Es dauerte wirklich nur kurze Zeit, da brach der mächtige böse Geist erneut auf. Diesmal hatte er die Gestalt eines gigantischen Steinriesen angenommen. Solche Steinriesen wurden fast so groß wie ein Berg und konnten ungeheure Mengen Flüssigkeit vertilgen. Jetzt musste die Flasche zu schaffen sein!

Er meldete sich vor der Zauberhöhle beim Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten. Der erkannte ihn sofort und rief die Ahnen zusammen.

„Da ist er wieder. Jetzt seht zu, was passiert.“

Die Ahnen stellten sich am Höhleneingang auf und sahen zu, wie der Steinriese einen Berg aus Geröll zusammentrug. Damit reichte er bis an den Flaschenrand.

Allerdings war der Berg ziemlich wackelig. Der Steinriese schwankte ein wenig, ließ sich davon aber nicht weiter stören. In großen gierigen Zügen begann er, den Schnaps in sich hineinzusaugen. Lediglich das vorgeschriebene Trankopfer ließ er ausfallen. So etwas hatte ein großer Geist wie er doch nicht nötig!

Da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Wie der Großvaterahne merkte, dass es kein Trankopfer gab und der Schnaps verschwand und verschwand, hielt es ihn nicht mehr an seinem Platz. Schreiend und fuchtelnd stürzte aus dem Höhleneingang und flatterte zum Kopf des Steinriesen hinauf.

„Das gibt es doch nicht! Kein Trankopfer? Du Scheusal! Ist dir gar nichts mehr heilig? Sofort hörst du auf und benimmst dich! Gehört sich das für anständige Riesen? Das Trankopfer will ich! Hörst du? Das Trankopfer! Dann erst saufen! Und das nicht zu knapp!“

Der Steinriese schlackerte mit den Ohren. Ihm war das Geschrei nur lästig, wie das Summen einer Fliege. Jetzt, wo er einmal angefangen hatte zu saufen und das Gift seine trinkstärkende Wirkung entfaltete, setzte er doch diese Flasche nicht ab. Im Gegenteil. Er kippte sie sogar noch mehr zu sich hin, damit der Schnaps besser nachlaufen konnte.

„Ja du Miststück, du verfluchtes!“ Der Großvaterahne flatterte vor der Nase des Riesen auf und ab. „Willst du wohl aufhören! Das Trankopfer! Erst das Trankopfer! Gibt es das denn? Lässt sich ohne Trankopfer vollaufen! Das Trankopfer her! Oder ich werde wild!“

Er stürzte sich auf das gigantische Maul und begann zu ziehen und zu schlagen und zu zerren. Das aber wirkte katastrophal. Denn nun ließ der Steinriese mit einem Arm die Flasche los und versuchte damit das vermeintliche Insekt zu verscheuchen. Unter diesem Gewackel geriet der Geröllhaufen ins Rutschen, der Riese schwankte, verlor das Gleichgewicht, versuchte noch Halt an der Flasche zu finden und verschüttete dabei eine beachtliche Menge Schnaps.

Die Flasche hielt ihn nicht. Er rutschte ab, stürzte, fiel und zerschellte schließlich am Fuß seines Bergs in tausende Brocken von kleinem Geröll.

Von diesem Geschehen bekam der Großvaterahne überhaupt nichts mehr mit. Er hatte sich in den Schnapsteich gestürzt und schlürfte das vermeintliche Trankopfer in großen Zügen in sich hinein, bis ihn die Mutterahne am Schattenzipfel energisch aufs Trockene zog.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Schau dir an, was du angerichtet hast! Alles hast du verpatzt! Alles! – Oh, ich hätte es wissen sollen. Ich hätte es wissen sollen! – Wie konnte ich nur in diese Familie geraten? – Oh, diese Schande! Diese Schande!“

Der Großvaterahne aber stand daneben und wrang sich aus und verstand nicht recht: „Was ist denn jetzt schon wieder? Ist er weg? Habe ich ihn verjagt? Wenn einer sich aber auch gar nicht benehmen kann. So was!“

„Du hast es gerade nötig!“ kreischte die Mutterahne. „Schau dich doch an, du versoffener Nichtsnutz! Nach Schnaps stinkst du! Geh mir aus den Augen! Ich will dich nie wieder sehen.“

„He! He!“ Der Großvaterahne begriff immer noch nicht. „Was heißt hier Nichtsnutz? Ich war der größte Zauberer meiner Zeit. Jawohl! Nichts ist mit Nichtsnutz.“

„Und der da ist der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. Der ist vernünftig. Der säuft sich nicht den Hals ab. Der kann wenigstens was. Der kann wirklich zaubern.“

Die Mutterahne winkte ein paar kräftige Ahnen herbei.

„Schau ihn dir an, Nichtsnutz! Schau ihn dir genau an! Alles hast du ihm versaut. Und das jetzt, wo es gerade so schön lief. Schafft ihn mir aus den Augen! Ich will ihn nie wieder sehen! Nie, nie wieder!“

Und während die kräftigen Ahnen den Großvaterahnenschatten zusammenrollten und tief hinunter in die Zauberhöhle schleppten, warf sich die Mutterahne neben der Schnapspfütze auf den Boden und weinte und weinte bitterlich.

„Nicht traurig sein, Mama“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste zärtlich. „Er kann doch nichts dafür. Der Kerl hat sich ja wirklich unschicklich benommen.“

„Ach was, unschicklich“, schluchzte die Mutterahne. „Verdorben hat er uns alles, der alte Säufer. Hätte ich ihn doch nie im Leben gesehen.“

„Das lässt sich nun mal nicht mehr ändern“, lächelte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. Dann ging er den Schaden betrachten.

Der Schnaps in der Flasche war deutlich weniger geworden. Die ganze hausgroße Flasche reichte später gerade, um den Verlust wenigstens einigermaßen auszugleichen. Einstweilen aber ging der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste nachdenklich vor der Flasche auf und ab, strich sich den Bart und leckte die Lippen.

„Du solltest ihm eigentlich danken, deinem Schwiegervater“, sagte er schließlich zur Mutterahne.

„Wie? Bedanken soll ich mich auch noch?“ rief diese empört und richtete sich auf. „Wie komme ich denn dazu?“

„Wirklich. Er hat uns vor einem schrecklichen Unglück bewahrt“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste ernst.

„Was kann denn noch schrecklicher sein als diese Blamage hier?“

„Der Trank war nicht stark genug. Der Geist hätte sich wahrscheinlich vor der Zeit aus der Flasche befreit. Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre!“

„So?“ Die Mutterahne verzog abschätzig die Lippen. „Nicht stark genug, der Trank, was? Euer Suff bringt uns noch alle ins Grab!“

„Da bist du doch schon“, lächelte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste.

„Pah!“ Die Mutterahne drehte sich um und ging hoch aufgerichtet zur Zauberhöhle, ihren Schwiegervater kräftig auszuschelten.

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aber füllte die hausgroßen Flasche in die berggroße Flasche um. Dann gab er noch einmal sieben Tropfen umweltfreundliches Rattengift dazu.

Das verursachte eine enorme Unruhe unter den Ratten im Land. Sie kamen in riesigen Zügen aus allen Winkeln und scharten sich in einer grauen, aufgeregt pfeifenden, wuselnden Masse zu Füßen der Flasche.

„Ich fürchte, jetzt wird es schwierig“, meinte der Vaterahne, als er das sah.

„Ich weiß nicht“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Viel stärker dürfen wir das Zeug keinesfalls machen. Nun können wir nur noch warten. Hoffentlich dauert es nicht so lange.“

Er betrachtete sich die Bescherung unter der Flasche, wo immer neue Rattenzüge ankamen. „Immerhin scheint der Lockzauber zu wirken“, setzte er nach einer Weile lächelnd hinzu.

Dann richtete er sich auf die Wartezeit ein.

Bis auf die Ratten war alles recht friedlich. Lediglich von tief unten aus der Zauberhöhle hörte man die Mutterahne sehr stark und sehr ausdauernd schelten.

Der Geist aber war einstweilen verwirrt und verärgert davongeflogen. Er verstand nicht ganz, was geschehen war. Außerdem fühlte er sich seltsam schwach. So kannte er sich gar nicht.

Und er hatte einen geradezu scheußlichen Durst.

„Das muss dieser verfluchte Schnaps sein“, dachte er bei sich. „Dass diese Menschen aber auch alles mit Saufen verbinden müssen. Kann man denn nicht mal ein kleines Stück Gold ohne dieses ekelhafte Geschlucke bekommen? Oh, dieser Durst!“

Und er beschloss, in der nächsten Wirtschaft eine ausgiebige Rast einzulegen. Ihm war wirklich sehr schwach zumute.

Es war eine recht üble Spelunke, in der er sich schließlich niederließ. Sie gefiel ihm gar nicht. Aber sie roch ausgiebig nach Schnaps, wenn auch von einer ziemlich billigen Sorte. Das musste genügen, denn als körperloser Geist konnte er natürlich nicht richtig nach Art der anderen Wesen saufen.

Wie er so die Gaststube durchschwebte, fiel ihm ein schmächtiger Kerl auf, der recht zerlumpt an seinem Tisch saß und ruhig einen Becher nach dem anderen in sich hineinschüttete.

„Donnerwetter!“ dachte der Geist. „Der hat aber einen guten Zug am Leibe.“

Dann sah er dem Treiben eine ganze Weile zu.

Schweigsam ließ der Gast sich den Becher füllen, schweigsam leerte er ihn in sich hinein und all das in einer bedächtigen Ruhe, die den Vorgang zum Normalsten von der Welt werden ließ.

„Genau so was brauche ich“, dachte der Geist. Sein Verlangen nach dem goldenen Stöpsel war wieder erwacht. Außerdem war sein Durst stärker als jemals zuvor. „Den schnappe ich mir.“

Dann wollte er sich wie gewohnt auf den Mann stürzen und ihn verschlingen, um anschließend seine Gestalt anzunehmen. Zu seiner Bestürzung aber funktionierte das nicht.

„Verfluchte Sauferei!“ schimpfte der Geist unhörbar. „Dann muss es eben andersrum gehen.“

Und mit großer Mühe zwängte er sich von außen hinein in den Mann. Das strengte so an, dass er schwor, bis zum Ende der Welt nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol anzurühren – wenn er nur erst mal den goldenen Stöpsel hätte.

Fürs erste aber richtete er sich ein, so gut es eben ging. Soviel war ihm von seiner Zauberkraft geblieben, dass er eine Sache von innen riesig ausweiten konnte, ohne dass man es von außen bemerkte. Innen war schließlich Raum genug für einen ganzen Berg. Von außen aber blieb der Mann unverändert dünn und schmächtig.

Nicht einmal er selbst bemerkte etwas von der Veränderung.

„Das dürfte reichen“, sagte der Mann, bezahlte an der Theke und ging hinaus.

Draußen besah er sich ausgiebig die Sterne und kratzte sich am Kopf. Irgendwie war ihm komisch zumute. Er erinnerte sich nicht mehr, wie er hierher gekommen war und nicht, wohin er gehen wollte.

„Na, dann halt nicht“, seufzte er und setzte sich, angetrieben von den Wünschen des in ihm wohnenden Geistes in Bewegung, immer auf die Zauberhöhle zu.

Es dauerte ein ganzes Jahr, bis der Mann mit dem Geist im Bauch vor der Zauberhöhle des Allerweisesten und Allerzauberkräftigsten angekommen war. Lange betrachtete er die riesige Flasche in ihrem Rattenmeer. Dann kratzte er sich ergeben am Kopf, ging zum Höhleneingang und sagte schlicht: „Da bin ich.“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste schaute ihn lange prüfend an. Schließlich nickte er und antwortete: „Ja, da bist du. Geh schon mal vor!“

Darauf rief er die Ahnen zusammen und zeigte ihnen das winzige Männchen vor der riesigen Flasche.

„Das ist er. Ohne Zweifel. Jetzt wird es ernst.“

Auf halbem Weg zur Flasche drehte er sich aber noch einmal um und rief ein paar der kräftigsten Ahnen zu sich: „Schafft mir den alten Säufer aus den Augen! Damit nicht wieder etwas passiert. Wir können uns jetzt kein Risiko mehr leisten.“

Wie der Blitz rollten die kräftigen Ahnen den Großvaterahnenschatten zusammen und brachten ihn ganz unten in der Zauberhöhle in die Obhut der Mutterahne. Sie beeilten sich, denn sie wollten nichts von dem Geschehen bei der berggroßen Flasche verpassen.

Hier hatte sich der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste mit seinem schmächtigen Gast durch die Rattenschar einen Weg zu der Leiter gebahnt, die zum Flaschenrand hinaufführte.

„Du weißt, was du zu tun hast?“ fragte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste.

„Ich glaube schon“, sagte der Mann und scheuchte eine aufdringliche Ratte mit einem Fußtritt von der untersten Leiterstufe. „Wenn nur die Mistviecher hier nicht währen.“

„Lass dich von denen nicht stören“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Pass auf! Du steigst jetzt da hinauf. Wenn du oben bist, werde ich den Stöpsel von der Flasche nehmen. Es kann sein, dass es dann ein wenig unruhig und laut wird von den Ratten hier. Sie sind ganz verrückt nach dem Schnaps. Kümmere dich nicht darum. Ich halte sie dir schon vom Hals. Mach du nur deine Arbeit.“

„Schon recht“, sagte der Mann und kletterte bedächtig Sprosse für Sprosse die Leiter hinauf.

Je näher er dem Flaschenrand kam, umso kribbeliger wurde der Geist im Innern des Mannes. In seiner Lage konnte er kaum etwas tun. So suchte er einen etwas erhöhten Platz und wartete ergeben auf den Schnapsregen, der bald einsetzen würde.

„Hoffentlich hält er durch“, dachte er, und: „Hoffentlich halte ich all das durch.“

Genau da zauberte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste den Stöpsel von der Flasche.

Ein unsagbarer Tumult brach unten los. Die Ratten wurden reineweg verrückt. Sie pfiffen und schrieen und kratzten und bissen und versuchten, über die Leiter zum Schnaps hinauf zu kommen. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste hatte alle Hände voll zu tun, konnte aber nicht verhindern, dass die Leiter gefährlich ins Schwingen geriet.

„Hilfe!“ schrie der kleine schmächtige Mann oben an der Leiterspitze. Dann fiel er mitten in den Schnaps hinein.

„Oh, ihr Götter!“ brach es da aus den Ahnen heraus. „Hoffentlich ersäuft er uns nicht!“

Das dachte der Geist im Innern des Mannes auch und half ihm beim Schwimmen, so gut es eben ging. Beim Paddeln im Schnaps bekam der jedoch einen kräftigen Schwall von dem Zeug in den Mund.

Von dem Augenblick an war es um ihn geschehen. Das umweltfreundliche Rattengift entfaltete sofort seine Wirkung und der Mann soff und soff und soff.

Dreiunddreißig Tage und Nächte soff sich der Mann immer tiefer die Flasche hinunter. Und all der Schnaps ergoss sich in seinem Inneren über den Geist und füllte nach und nach die berggroße Höhle vollständig auf. Und der Geist war im Schnaps. Und der Schnaps war im Geist.

Das wirkte viel schlimmer, wie wenn der Geist das Zeug in irgendeiner angenommenen Gestalt selber gesoffen hätte. Denn jetzt gab es nichts mehr um ihn und in ihm, das nicht Schnaps war.

Ganz elend wurde ihm da. Und irgendwie ungemein schwach.

»Jetzt!« rief da der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste mit donnernder Stimme und warf mit einem gigantischen Zauber den goldenen Stöpsel auf die Flasche. Der rutschte bis zum Rand hinein und verkeilte sich so fest, dass kein Zauber ihn mehr hätte lösen können.

»Da hast du deinen goldenen Stöpsel!« rief er. Und der Berg erzitterte vor seiner Gewalt.

In das Toben der Ratten aber mischten sich zwei verzweifelte Schreie. Sie gellten den Zuschauern so in den Ohren, dass sie fürchteten, die Köpfe würden ihnen zerplatzen. Noch nach vielen Jahrhunderten kündeten die alten Sagen der Menschen davon.

Der eine Schrei kam aus dem Mann, der unten auf dem Flaschenboden lag. Das war der Geist, der endlich verstanden hatte, was ihm geschehen war.

Den anderen Schrei aber stieß der Großvaterahne aus, der es gerade in diesem Augenblick wieder an die Oberfläche geschafft hatte. Ohnmächtig sank er vor der Flasche hin und rührte sich nicht mehr.

Jetzt könnte eigentlich Schluss sein.

Es blieb jedoch noch eine schwierige Arbeit zu tun.

---

Zurück Nach oben