Wie der Geist in die Flasche kam
von
Bernd Pol
Zwölfter Abschnitt

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Zwölfter Abschnitt
In dem die ganze Welt Erz für den Kessel herbeischafft und man den Flaschengeist endlich an der tiefsten Stelle ins tiefste Meer versenkt

Tiefe Bestürzung erfasste den Rat der Alten und Weisen, als die Abordnung Bericht erstattet hatte.

„Dann sind wir also immer noch nicht sicher“, sagte der Älteste leise. „Was sollen wir jetzt nur tun?“

„Erz herbeischaffen!“

Was sollte man sonst raten? Selbst die Ahnen, die dem Rat unsichtbar beiwohnten, stimmten mit ernstem Kopfnicken zu.

„Wenn auch der Allerweiseste keinen anderen Weg sieht! Was bleibt uns da schon?“

„Aber wir haben kein Erz!“ rief der Älteste. „Das wisst ihr doch. Ein berggroßer Topf! Habt ihr eine Ahnung wie viel das ist? Und dann die ganze Zusatzarbeit: weinen, singen, tanzen, beten. Wer verkauft uns denn so was? Soviel Geld gibt es ja gar nicht. Es wird ewig dauern – bis dahin ist der Geist längst aufgewacht.“

„Das stimmt“, flüsterten die anderen im Rat. „Leider!“

„Dann sind wir verloren!“ flüsterte der Allerälteste fast tonlos und fiel in ein verzweifeltes Schweigen.

Lange saßen sie so und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Das ganze Volk versank in Trauer und Angst. Nur noch das Nötigste wurde getan. Gerade genug um gerade eben weiter zu leben.

So ging das ein ganzes Jahr. Und dann noch eines. Und noch ein drittes.

Der Ruf von dem traurigen, zum Untergang verurteilten Volk drang weit in die Welt hinaus. Die Menschen vergossen bittere Mitleidstränen, wie sie von solchem Schicksal hörten. Außerdem hatten sie selbst Angst. Abhilfe aber wussten sie auch nicht.

Bis eines Tages ein fahrender Sänger in diese Gegend kam, ein junger, lebenslustiger Mann. Er war klug und fröhlich und mied alles Unglück, wenn es irgend ging. Mit Bedacht hatte er bis dahin einen Bogen um das Land mit dem untergehenden Volk gemacht. Es war reiner Zufall, dass er plötzlich unter all den trauernden Menschen stand.

Dann aber rührte ihn ihr Schmerz bis tief ins Herz. „Das geht doch nicht!“ sagte er sich. „Warum tut denn hier keiner was?“ Und er ging zum Rat der Alten und Weisen hinauf.

„Was sitzt ihr hier und vertrauert eure kostbare Zeit?“ rief er vorwurfsvoll. Er hielt nicht viel von Traurigkeit. Dazu war er zu jung.

„Sind euch die Tränen so wenig wert, dass ihr sie so nutzlos vergießt? Wisst ihr nicht, dass draußen in aller Welt die Menschen mit euch trauern? Dass sie nur auf ein Zeichen warten, um euch zu helfen? Das letzte Hemd würden sie hergeben, wenn sie euch nur von eurem Verhängnis befreien könnten.“

Die Alten und Weisen im Rat blickten kaum auf. „Du redest, wie du es verstehst, junger Mann!“ sagte der Älteste ernst. „Es gibt nichts, mit dem sich das Verhängnis aufhalten lässt.“

Das ärgerte den Sänger. „Oh, ihr Kleinmütigen!“ rief er aus. „Da habt ihr die Rettung vor eurer Nase und greift nicht zu! Tut doch was! Handelt! Dann wird euch geholfen!“

Die Ältesten und Weisen im Rat hoben nur müde die Schultern.

„Du bist noch jung!“ sagte der Allerälteste tadelnd. „Sehr jung bist du und ziemlich rasch bei der Hand mit deinen Sprüchen. Was sollen wir denn tun? Wo gibt es die Hilfe, von der du da singst?“

Das mit dem Singen war nicht wörtlich gemeint. Doch der Sänger griff dieses Stichwort gleich auf.

„Das ist es doch!“ rief er und hob seine Laute. „Singen sollt ihr! Singen und tanzen. Hat das der Allerweiseste nicht ausdrücklich befohlen?“

Die Alten und Weisen im Rat rührten sich kaum.

„Ja!“ brummte der Älteste. „Trauergesänge und Grabestänze! Das ist auch alles, was wir noch können.“

„Dann macht es doch!“ rief der Sänger.

Die Alten und Weisen im Rat starrten ihn verständnislos an: „Wie meinst du das? Was sollen wir tun?“

„Nun, singt, tanzt, trauert, hofft, weint – und schafft und lasst andere schaffen. Dann wird euch auch geholfen.“

Der Sänger war auf einen Felsen gesprungen, fuchtelte mit den Armen und stimmte sein bestes Lied zum Mut machen an. Er sprühte vor Begeisterung.

Die Alten sahen ihm lange zu. Ein wenig Hoffnung stieg da auf. Allen im Rat ging es ähnlich. Selbst die unsichtbar um sie versammelten Ahnen ließen sich von seiner Begeisterung anstecken. Allerdings nur ein bisschen. Und das mit betonter Würde.

Schließlich erhob der Älteste sich mühsam und humpelte zu dem Felsen hinüber.

„Erklär das mal näher“, sagte er leise. „Womöglich nutzt es ja doch was. Tanzen kann ich nicht mehr. Aber man kann es ja vielleicht mal versuchen.“

„Aber natürlich kann man das“, rief der Sänger. „Es ist doch so einfach! Alle Welt hofft mit euch. In allen Völkern der Erde warten die Menschen, dass sie etwas tun können. Geht doch und bittet um das Erz, wenn ihr es nun mal nicht kaufen könnt.“

„Bitten? Um Erz bitten? Nicht kaufen?“ Für einen eingefleischten Händler war das ziemlich viel verlangt. „Wer hört denn auf so was?“

Außerdem war da ja noch etwas anderes. Etwas sehr Wichtiges.

„Und die Tränen, die das Erz durchdringen sollen? Die Tränen und die Angst und die Hoffnung und der Wille sich zu wehren? Wie soll das gehen? Wie sollen wir das viele Erz damit durchtränken? Es gibt zu wenige, die hinaus können. Wir schaffen das nicht.“

Ja, wie? Aber es musste doch gehen! Und es würde auch gehen, bestimmt. Irgendwie …

Sonst ging hier doch die Welt noch unter. Wenn der Geist freigekommen war. Irgendwann.

Der Sänger sah die Menschen vor sich, draußen die, die doch auch Angst hatten. Angst vor dem, was auf sie selbst zukäme, wäre der Geist erst einmal mit diesem Volk hier fertig geworden.

Es war nicht auszudenken! Man musste da doch was tun!

„Das stimmt und ist doch falsch“, sagte er nach einer Weile. „Seht, wo ihr selbst nicht weinen könnt, können doch andere für euch weinen. Wo ihr euren Kummer nicht hintragt, können doch andere ihn für euch tragen. Wo ihr mit euren Sorgen und Hoffnungen nicht hinreicht, können andere für euch hoffen und sorgen. Tragt doch euren Willen in die Welt! Er wird sich vertausendfachen dort draußen. Und was ihr braucht, wird auch geschehen.“

Jemanden überzeugen müssen strengt an. Der Sänger hielt inne und wischte sich erschöpft den Schweiß aus dem Gesicht. So eine Arbeit war er nicht gewohnt.

Die Alten starrten ihn stumm an. Sie warteten auf mehr.

„Was ich meine“, erklärte er schließlich, „ist, dass ihr Abordnungen zu allen Bergbau treibenden Völkern der Erde senden sollt. Schickt die besten Redner, die besten Sänger, die lautesten Klageweiber, die tapfersten Krieger. Schickt jeden, der die Menschen rühren kann, damit sie euren Schmerz und eure Hoffnung mittragen. Ihr werdet sehen: Alle werden sie in eurem Namen das Erz abbauen. Und sie werden es für euch mit ihren Tränen und ihrem Kummer, mit ihren Sorgen und ihrer Hoffnung und ihrem Willen durchtränken. Und das werden sie aus Liebe zu euch tun und für euer Leben. Und deshalb wird es schwerer wiegen, als wenn ihr es selber getan hättet.“

Dann schwieg er und setzte sich abseits unter einen Baum.

„Er überrascht mich, dieser junge Mann“, sagte der Älteste im Rat nach einer Weile. „Er spricht wie ein Weiser. Als ob es der Allerweiseste selbst wäre. In einer Verkleidung.“

Es war aber nicht der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. Es war nur ein junger Mann, der lieber sang und tanzte als Trübsal zu blasen. Er dachte ein wenig gegen den Strich. Das machte die Jugend. Und das Mitleid.

„Lasst euch doch helfen! Die Menschen warten nur darauf“, murmelte er. „Tut doch was.“

Dann schlief er unter seinem Baum ein.

Da berieten die Alten und die Weisen und die Ahnen sehr lange. Sie waren sich durchaus uneins, ob das wirklich gelingen könne, was er da vorschlug. Immerhin waren sie vor allem ein Volk von Händlern. Aus Mitleid alleine sind keine Geschäfte zu machen. So hatten sie es gelernt.

„Wir sollten es versuchen“, sagte der Allerälteste und Weiseste schließlich. „Wir haben eh keinen anderen Weg.“

Da nickten die anderen im Rat. Was sollten sie anderes tun?

Man rief die besten Redner, die gewandtesten Sänger, die lautesten Klageweiber, die tapfersten Krieger und die stärksten Zauberer und stellte Gruppen aus ihnen zusammen und schickte sie hinaus zu allen Bergbau treibenden Völkern der Welt.

Und der Sänger führte selbst eine davon zum größten, reichsten und geizigsten Bergbauvolk und sprach dort zu den Menschen und sang und ließ die Weiber klagen und die Krieger tanzen und die Zauberer zaubern.

Und es gelang!

Überall, auf der ganzen Welt bauten die Menschen Erz für den großen Kessel ab. Und sie beteten und weinten, während sie die Steine zerschlugen, dass ihre Tränen jeden Klumpen benetzten. Und die besten Krieger und Sänger aller Völker sangen die mutigsten Lieder über das Erz. Und ihre mächtigsten Zauberer tanzten die stärksten Tänze auf ihm.

Überall, auf der ganzen Welt.

Jahr um Jahr rollten aus der ganzen Welt Ochsenkarren zur Zauberhöhle. Neben der Flasche wuchs ein Berg aus Erz, bis er schließlich sogar den goldenen Stöpsel ganz oben überragte.

Dreiunddreißig Jahre lang.

Als der Berg die Flasche endlich völlig verdeckte trat der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste aus seiner Höhle und betrachtete lange die riesige Halde aus allerbestem Erz vor seiner Tür.

„Das genügt!“ rief er. „Wir können beginnen!“

Dann schuf er als erstes mit mächtigen Schmiedezaubern einen riesigen Kessel aus all dem Erz.

Ein ganzes Jahr brauchte er dazu!

Darauf füllte er ihn mit den Schmelzwassern der höchsten Berge, gebot der Erde, sich zu öffnen und stellte den Kessel über die glühende Lava.

Drei Jahre stand er dort. Dann kochte das Wasser. Es war soweit!

Mit einem gewaltigen Zauber, dass die Erde erbebte, stellte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste die berggroße Flasche mitten in das kochende Wasser hinein.

Sieben Jahre kochte es in dem Kessel Tag und Nacht. Und alle Gebete und Tränen, alle Lieder und Gesänge, alle Hoffnung und aller Mut der Menschen aus aller Welt drangen aus dem Erz in das Wasser und machten es zauberkräftig und stark.

„Es wirkt!“ sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste nach dem ersten Jahr zu den Ältesten und Weisen der Abordnung.

Und sie sahen, wie die Flasche zu schrumpfen begann.

Im zweiten und dritten Jahr schrumpfte die Flasche samt dem goldenen Stöpsel schneller und immer schneller.

Am letzten Tag des dritten Jahres war sie nur noch so groß wie ein Haus.

„Es wirkt!“ sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste erneut. „Jetzt kommt es auf die letzten Jahre an.“

Bis zum siebten Jahr schrumpfte die Flasche nur noch langsam weiter, erst auf Baumgröße, dann auf Mannsgröße. Irgendwann war sie nur noch wie eine große Korbflasche. Und am letzten Tag des letzten Jahres schwamm eine ganz normal große Weinflasche in einer letzten Pfütze ganz unten im Kessel.

„Ich glaube“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste, „jetzt ist es beinahe geschafft.“

Er zauberte den Kessel und das restliche Wasser weg und gebot der Erde, sich wieder zu schließen. Dann musste die Flasche oben auf dem Berg noch einmal sieben Jahre abkühlen.

Denn das ging nicht so schnell bei all der Magie.

Als dann sie endlich kalt genug war, rief der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste die Ältesten und Weisen wieder zu sich.

„Da haben wir euer Problem“, sagte er und wies auf die Flasche.

Die stand vor ihnen auf dem Tisch und strahlte in einem starken blauen Licht.

„Jetzt nur noch ein bisschen, dann ist es geschafft.“

„Was ist geschafft, Allerweisester?“ fragte der Älteste und Weiseste der Abordnung. „Was genau hast du da eigentlich getan?“

Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste lächelte: „Soviel getan habe ich eigentlich gar nicht. Das ward ihr mit euren Tränen und Sorgen, mit euren Hoffnungen und Wünschen, mit euren Liedern und mit eurem Mut. Das hat die Flasche für alle Ewigkeit verstärkt und verdichtet. Und deshalb ist sie jetzt auch so klein.“

Und eine Weile schauten alle die Flasche schweigend an.

„Seht ihr das Leuchten?“ fragte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste leise und die Abordnung nickte. „Das ist alles eure Kraft. Solange die Flasche leuchtet, wird sie den Geist halten. Und das wird reichen bis ans Ende der Welt, wenn nicht ...“

„Wenn nicht was, Allerweisester?“ rief erschrocken der Allerälteste und Weiseste.

„Es gibt noch eine winzige Unsicherheit“, erklärte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste. „Ich muss einen Lösezauber darüber sprechen. Sonst würde sie womöglich eines Tages zerplatzen.“

„Wie bitte? Einen Lösezauber?“

„Ja! Einen Lösezauber! Wir müssen dem Geist einen geordneten Weg zur Befreiung öffnen, sei er auch noch so schwer. Das verlangen die Vorschriften. Und das ganz normale Mitleid.“

„Mitleid?“ schrie da der Allerälteste und Weiseste mit schriller Stimme. „Mitleid mit dieser Kreatur? Mit dem Bösen schlechthin? Das ist doch nicht dein Ernst?“

„Doch!“ sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Es ist mein voller Ernst! Selbst der da drin ist ein Wesen dieser Welt. Selbst der da kann sich wandeln. Wir dürfen ihm die Möglichkeit nicht völlig verwehren.“

Und dann sprach er diesen Lösezauber:

„Ruhen sollst du
in den allertiefsten Tiefen des allertiefsten Meeres
bis ein Mensch kommt und dich fängt
mit dem ältesten Netz dieser Welt,
das niemals auch nur eine
einzige Schuppe sah.“

Es gab einen gewaltigen Donner, als er den Spruch beendet hatte. Die Flasche blitzte grell auf. Und aus ihr drang ein fürchterlicher Schrei, der allen Anwesenden durch Mark und Bein ging und den keiner jemals vergaß, all sein Lebtag nicht.

Dann ging alles ganz schnell. Der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste zauberte ein Schiff herbei, das er mit all den Alten und Weisen der Abordnung bestieg. Sie stellen die Flasche vor sich und fuhren mit einem weiteren Zauber zur tiefsten Stelle im tiefsten Meer.

Dort legten sie die Flasche feierlich aufs Wasser und sahen zu, wie sie langsam immer tiefer versank.

„Das war’s“, sagte der Allerweiseste und Allerzauberkräftigste, als der letzte Schimmer des blauen Leuchtens in der Tiefe verschwunden war. „Was jetzt kommt, gehört nicht mehr zu dieser Geschichte.“

Und sie fuhren nach Hause und lebten hinfort unbehelligt, sie selbst und ihre Kinder und die Kinder ihrer Kinder, bis ans Ende ihrer Zeit.

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Nachtrag

Von dem Flaschengeist hörte lange, sehr lange niemand mehr was. Erst viele Zeitalter später wurde er von einem alten, unglücklichen Fischer mit einem alten, geborgten Netz aus einem alten, seicht gewordenen Meer gezogen und schließlich befreit.

Doch da hatte die Welt sich völlig verändert. In ihr war der Geist längst nicht mehr so mächtig. Und nicht mehr so böse. Und nicht mehr so groß.

Andere Geschichten erzählen davon. Uns braucht das nicht mehr zu kümmern. Wir wissen das ja:

Es wird alles schon recht.

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